Rechenschwäche: eine schulinduzierte Kognitionsstörung ?
Über das nicht ganz zufällige Entstehen von Rechenschwäche aus dem Zusammentreffen der SchülerindividuenErstveröffentlichung in: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik - International Reviews on Mathematical Education Heft 3/Juni/2000
1. Problemstellung
2. Rechenschwäche: Begriff oder Ideologie
?
3. Aber es gibt sie doch, die Rechenschwäche
- Analyse
4. Exkurs: Menschenbild und Unterricht
- z.B. Konstruktivismus
5. Neudefinition der Rechenschwäche
und neues Forschungsparadigma
6. Abwicklung der Rechenschwächeproblematik
heute - Fördern/§35a-KJHG
Friedrich H. Steeg, Volxheim
Abstract: Dyscalculia: a school-induced cognitive
disorder? The article deals with contradictorinesses in past research on dyscalculia
and intends to open a new perspective for analyzing dyscalculia. A logical-analytic
criticism of terms and an ideology-critical analysis of effects of selective
instruction on learning achievements in mathematics will help to identify the
contents of dyscalculia and show how past research fragments should be evaluated.
The author understands his contribution as a beginning outside the existing
educational system and outside all improvement alternatives that are presented
inherently inside the system. The article deals directly with some of the most
recent points of research in the area of dyscalculia, learning, didactics, pedagogics
and school. The article also takes up earlier debates and points out their weaknesses
and errors. Additionally the article very practically points towards a connection
between theoretical criticism and actual school practice. It is expressly not
the concern of the author to add with this article new models, alternative ideal
conceptions or ethical evaluations. Practical consequences for the learning
problem of dyscalculia are derived directly out of the critical analysis itself
- within school outside of it.
Kurzreferat: Der Artikel geht auf Widersprüchlichkeiten bisheriger Forschungen auf dem Gebiet der Rechenschwäche ein und will eine neue Perspektive zur Beurteilung der Rechenschwäche eröffnen. In einer logisch-analytischen Kritik von Begriffen und der ideologiekritischen Analyse von Auswirkungen des Ausleseunterrichts auf das Erlernen der Mathematik soll sich klären, was der Inhalt der Rechenschwäche ist und wie bisherige Forschungsfragmente einzuordnen sind. Der eingenommene Forschungsstandpunkt versteht sich als ein Ansatz außerhalb des existierenden Schulsystems und außerhalb systemimmanent vorgetragener Verbesserungsalternativen. Der Artikel geht direkt auf einige der aktuellsten Forschungsstandpunkte im Bereich Rechenschwäche, Lernen, Didaktik, Pädagogik und Schule ein, greift auch frühere Debatten auf und zeigt deren Schwächen und Fehler auf. Außerdem zielt der Artikel sehr praktisch auf eine Verknüpfung von theoretischer Kritik und tatsächlicher Schulpraxis, d.h. dem Artikel geht es ausdrücklich nicht um eine Hinzufügung modellhafter, alternativer Idealvorstellungen oder ethischer Bewertungen. Aus der kritischen Analyse selbst ergeben sich unmittelbar praktische Konsequenzen für die Lernstörung Rechenschwäche - innerhalb und außerhalb der Schule.
ZDM-Classification: D70 (Lernschwierigkeiten
und Schülerfehler)
Der vorliegende Artikel wendet sich an Lehrer,
Lernstörungsforscher, Mathematikdidaktiker, Lehrerausbilder, Psychologen,
Pädagogen und an betroffene Eltern. Der Argumentationsansatz ergibt sich
aus sozialwissenschaftlichen Forschungen in über zwanzig Jahren und deren
Verknüpfungen mit meiner täglichen Praxis als Rechenschwächetherapeut
in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz (Steeg 1996, Autorenkollektiv
der Rechenschwächetherapeuten von RESI-Volxheim/IML-Essen/Boerner, G. u.a.
1998, Steeg 1999).
Die verschärften Konkurrenzbedingungen für
aufwachsende Kinder und Jugendliche in einer sich globalisierenden Marktwirtschaft,
sowie die darauf beruhende, nicht endenwollende Debatte über die Leistungsfähigkeit
deutscher Bildungsprodukte (TIMSS-Studie) und wie man sie verbessern könnte,
bilden den aktuellen Hintergrund meiner kritischen Beurteilung des derzeitigen
Begriffs von Rechenschwäche.
In diesem Artikel wird die These begründet,
daß die sogenannte Teilleistungsschwäche Dyskalkulie - und ihre ideologischen
Betrachtungsweisen - wie auch viele als normal bewertete Lernprobleme in Mathematik,
sich dem, alle Lernabsichten strukturell dominierenden Auslesezweck der Schule
verdanken. Es werden Argumente dazu vorgetragen, wie der Zweck der Auslese Widersprüche
und Lernhindernisse hervorruft und befördert.
Damit wird in der Konsequenz der Argumentation
des Autors geklärt, was Rechenschwäche ist: eine schulinduzierte Kognitionsstörung
(siehe Kapitel 5: Neudefinition).
2. Rechenschwäche: Begriff oder Ideologie ?
Rechenschwäche - ihre begrifflichen Widersprüche
- wurde bereits in früheren wissenschaftlichen Arbeiten diskutiert (Meyer
1993, Steeg 1996, Röhrig 1996). Einige Vertreter der deutschsprachigen
Dyskalkulieforschung widersprechen solchen Auffassungen (Grissemann 1996, S.11-26,
Lorenz 1997, S.67).
Ein Verweis auf besondere Typen von Rechenschwächen
- deren vielfältige Ursachen, Bedingungen und Voraussetzungen - wird bei
den meisten Autoren als zentrale Aussage dafür benutzt, was die Rechenschwäche
selbst als Oberbegriff ihrer vielfältigen Erscheinungsformen eigentlich
sei. Offensichtlich ist es - selbst nach Jahrzehnten der Forschung - nicht möglich,
eine klare Aussage über das Wesen der Rechenschwäche zu machen. So
verbleibt die als wirksam behauptete Kraft, die sowohl Zahlverständnis
als auch das Rechnen verhindert, im Dunkel der Multikausalität, Multifaktorialität
sowie der Komplexität eines Schüler-Umwelt-Beziehungs-Systems:
"Nicht der einzelne Schüler ist schwach, sondern das System Schüler-Umwelt. Rechenschwäche ist in dieser Sicht ein systembezogener Dispositionsbegriff, wie er in den modernen empirischen Wissenschaften Verwendung findet: Das komplexe System Schüler-Umwelt tendiert zu mangelhaftem Erfolg im Mathematikunterricht, wenn bestimmte spezifizierbare Bedingungen vorliegen, und diese Bedingungen können prinzipiell in jeder Systemkomponente auffindbar sein. Rechenschwäche kann in systemischer Sicht folglich nur als ätiologisch offener Begriff aufgefaßt werden. Bei der Aufklärung mangelnden Lernerfolgs im Unterricht darf nicht voreilig auf die Person des Schülers rekurriert werden, man wird in aller Regel ein wechselseitiges Zusammenspiel interagierender Bedingungsfaktoren herausarbeiten müssen, um festzustellen welche Systemkomponenten verbesserungsbedürftig sind, damit die Passung zwischen Schüler und Umwelt optimiert und die Leistungsfähigkeit des Systems gesteigert werden kann." (Wember 1991, S.11-12)
Ein Forschungsprojekt per Definition ist damit geboren, das neben seiner implizit beschriebenen Nützlichkeit keiner weiteren Begründung bedarf. Die WHO zieht sich ganz auf die abgrenzbare Störung zurück:
"Rechenstörung: Beeinträchtigung von grundlegenden Rechenfertigkeiten. Diese Störung beinhaltet eine umschriebene Beeinträchtigung von Rechenfertigkeiten, die nicht allein durch eine allgemeine Intelligenzminderung oder eine eindeutig unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Defizit betrifft die Beherrschung grundlegender Rechenfertigkeiten wie Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Algebra, Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden." (WHO/ ICD 10 F81.2 - Internationale Klassifikation psychischer Störungen 1995, S. 277 unter F8 Entwicklungsstörungen, F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, 1993)
... andernorts wird intelligenzunabhängig sortiert und gesammelt:
"Wenn ein Kind von normalem
Intelligenzniveau im Rechnen durchgehend schwach ist oder darin völlig
versagt, so kann es berechtigt sein, eine Rechenschwäche zu vermuten. Nicht
jedes Kind, das schlecht rechnet, hat eine Rechenschwäche. (...)
Es gibt auch nicht die Rechenschwäche,
sondern soviele verschiedene Rechenschwächen, als es rechenschwache Kinder
gibt. Keine gleicht exakt der anderen. Die Rechenschwäche ist ein abstrakter
Sammelbegriff. Im konkreten Falle haben wir es mit der individuellen Rechenschwäche
eines bestimmten Schülers zu tun." (Wolfensberger 1981)
Auch der Verweis auf die Intelligenzunabhängigkeit, Vielschichtigkeit, partielle Eingrenzbarkeit und individuelle Verschiedenheit der Fehler, die rechenschwache Individuen machen, kann nicht die Bestimmung der implizit behaupteten Gemeinsamkeit Rechenschwäche ersetzen. Man könnte als hypothetische Allgemeinheit des Rechenschwächebegriffs behaupten, er sei die quantitative Steigerung von Lernschwierigkeiten in Mathematik, ursächlich zugespitzt auf eine den Betroffenen innewohnende Schwäche: Die individuell geortete Kraft, die man Rechenschwäche nennen will. Sobald jedoch in einem Forschungsansatz über Rechenschwäche die Frage, was diese innewohnende Kraft sein könnte, zur Beantwortung ansteht, zieht der soeben behauptete hypothetische Oberbegriff seine Allgemeinheit komplett in Zweifel und verweist auf die vielen besonderen Beziehungen, Äußerungen und Einzelfälle. Um einen Oberbegriff Rechenschwäche formell aufrechterhalten zu können, wird auf die Multifaktorialität des Bedingungsgefüges von Lernprozessen verwiesen (Grissemann/Weber 1990, S.30-33). Faktisch bedeutet dieses sozialwissenschaftliche Konstrukt, daß das Phänomen der Rechenschwäche, jenseits einer Analyse von kausalen Zusammenhängen, als Ausdruck eines schicksalhaft vorgegebenen Bildungs- und Erziehungsgefüges betrachtet wird - quasi als Ausdruck einer notwendigen Gewordenheit von unbestreitbaren Tatsachen. Eine Spirale von wertneutralen bzw. zweckneutralen Bedingungshierarchien bietet sich der Forschung zur Untersuchung dar, mit der produktiven Folge: es darf ungeniert alles systematisiert und miteinander korreliert werden - gleichgültig gegenüber der Widersprüchlichkeit verschiedenster Ursachenbehauptungen. Als Standpunkt bleibt die beliebig interpretierbare und gegenstandsferne Aussage über die unwiderlegbare Allgemeinheit der Rechenschwäche stehen: Rechenschwäche ist der Ausdruck von allem, was damit zu tun gehabt haben könnte - Auftakt für jede beliebige Art empirischer Fragestellungen:
"Menon (Menon: Dialogpartner von Sokrates im Streit um die Rechenschwäche) will die Unkenntnis der Rechenschwäche für sich stehen lassen und die Heilbarkeit isoliert untersuchen. Sokrates nennt dieses Vorgehen die Voraussetzungs-Methode." (Meyer 1993, S.44)
"Fragestellungen der Forschung konstituieren den Pseudomythos dieser Lernstörungen mit. Sie bilden die geistige Aufwärmrunde, sodass die Vergegenwärtigung des Dyskalkulikers wie ein logischer und natürlicher Akt erscheint." (Meyer 1993, S.68)
Ist Rechenschwäche nun ein Begriff mit
rein quantitativ abgrenzendem Aussagewert - ein besonders gravierender Unterfall
von Lernschwierigkeiten in Mathematik? Gäbe es einen anderen, vernünftigen
Grund, Rechenschwäche von den sonstigen Lernschwierigkeiten in Mathematik
begrifflich unterscheiden zu müssen?
Bei regulären Schwierigkeiten im Lernen käme
niemand auf die Idee, sie als systemischen Dispositionsbegriff des Menschen
zu bezeichnen. Wenn solche Schwierigkeiten jedoch Ausmaße annehmen, die
mit Schule und normaler Förderung nicht aufzufangen sind, wird den Schülern
eine solche besondere Disposition - wie auch immer begründet - unterstellt.
Fest steht nur, daß die betroffenen Schüler die Grundlagen der Mathematik
nicht verstanden haben und/oder etwas anderes daraus machen - Strategien, subjektive
Algorithmen, Phantasien, Rätselspiele. Außerdem halten sich solche
Vorstellungen sehr hartnäckig, so daß die Schüler sich, trotz
Hilfestellung durch Eltern oder Lehrer, nicht aus den inhaltlich-mathematischen
Verirrungen befreien können.
Auch außerhalb des Bereiches des Lernens
wird umgangssprachlich mit dem Schwächebegriff operiert, aber wissenschaftlich
macht es keinen Sinn. Mißerfolge gibt es ständig, angesichts der
verschiedensten gesellschaftlichen Anforderungen. Aus jedem Versagen gleich
einen Dispositionsbegriff zu konstruieren, wäre absurd: Arbeitslosigkeit,
Unsportlichkeit, Einsprachigkeit, Fettleibigkeit, Unmusikalität, Schusseligkeit,
Vergesslichkeit - der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Wenn ein Versagen
zum Begriff erhoben wird, besteht daran ein besonderes Interesse. Ein passender
Name mit X-schwäche oder Dys-Y-nie oder - Z-asthenie oder A-betismus ist
schnell gefunden.
3. Aber es gibt sie doch, die Rechenschwäche - Analyse:
Versagt ein Kind in den ersten Grundschuljahren
darin, die Mindestanforderungen des Rechenunterrichts zu erfüllen, so kann
der Verdacht auf ein totales Lernversagen in diesem Stoff aufkommen. Kompensation
solcher Mängel, ohne den abstrakten Inhalt des Stoffs zu verstehen, ist
ebenfalls möglich: Auswendiglernen, Üben, extremes Schematisieren
können den Eindruck erwecken, es sei alles in Ordnung. In Wirklichkeit
baut das Kind sich mit Hilfe subjektiver Algorithmen, Strategien, Techniken,
Schemata, Regeln eine quasimathematische Scheinwelt auf, an die es fragmentarisch
und begrenzt glaubt, weil ihm andere Mittel nicht zur Verfügung stehen,
um die geforderten Leistungen zu erbringen. Spätestens beim Überschreiten
der begrenzten Tragfähigkeit solcher - mehr oder weniger fragmentarischen
- subjektiven quasimathematischen Systeme tritt, auch nach außen hin sichtbar,
ein völliger Leistungsabsturz ein. Dies kann sich manchmal erst in der
weiterführenden Schule für Lehrer und Eltern bemerkbar machen. Bereits
an dieser Stelle der Argumentation muß auffallen, daß die Leistungen,
die in der Schule unter der Kategorie Rechnen bewertet werden, keiner mathematischen
Kontrolle unterliegen, sondern einer Trefferquotenkontrolle, die inhaltliche
Rückschlüsse auf Verständnis nicht notwendig einschließt.
Rechenschwäche besteht insofern darin: In
der Auseinandersetzung mit einem Stoff, den man lernen muß, wird man so
beurteilt, daß das Produzieren hoher Trefferquoten dem Lernenden als unbedingt
zu erfüllende Anforderung gegenübertritt. Das Ungenügen, diesen
Anforderungen nachzukommen, wird dem Schüler - wegen der Gleichbehandlung
- als persönliches Merkmal und damit als seine Schuld zugerechnet, indem
die Bildungsinstitution Grundschule ihn diesem Maßstab unterwirft - rein
praktisch mit den sozialen Folgen, die für die Schul- und Berufskarriere
darin enthalten sind. Zu dieser schulgemäßen Art und Weise Schuldzuweisungen
vorzunehmen, paßt andererseits die Befürchtung, die Kinder würden
durch einen Eigenschaftsbegriff wie Rechenschwäche stigmatisiert. Durch
den Eigenschaftsstatus der Rechenschwäche als Schwäche erscheint diese
wie eine Krankheit, die dem Lernsubjekt zugerechnet wird - selbst dann noch,
wenn der Anwender des Rechenschwächebegriffs dies dementieren würde
(Grissemann 1996, S.12-23). Im theoretischen Streit darum, ob die Schwäche
an den Kindern persönlich haftet oder nur ihr systemisches Merkmal ist,
geht jedoch völlig unter, daß in der schulischen Konkurrenz Schuldfragen
und deren Handhabung bereits in den amtlichen und gewohnheitsmäßigen
Konkurrenz- und Karrierebedingungen geregelt sind.
Stigmatisierungsverbote weisen sich insofern als
affirmative moralische Rettung der Ehre der Opfer von Ausleseunterricht aus.
Sie helfen weder, die Gründe für Lernversagen zu klären und zu
beseitigen, noch Definitionsprobleme für spezielle Schwächen zu lösen.
Stigmatisierung ist der Titel für die Betreuung der als notwendig anerkannten
Opfer einer Konkurrenz. Wenn man die Verlierer nicht Versager nennt, hat man
ihnen demnach schon geholfen. Die mit dem Stigmatisierungsverbot geleistete
moralische Selbstkritik stützt eine falsche Annahme. Es wird behauptet,
Lernversagen sei ein Problem des Selbstbewußtseins, behebbar durch ein
zusätzliches Quantum Lob! Das Stigmatisierungsverbot verpsychologisiert
die Schädigungen durch die Auslese. Darin bietet es den entsetzten Betrachtern
der Auslesefolgen einen Ersatz für Ursachenkritik.
Es gibt viele Lernvoraussetzungen, die individuell
sehr verschieden sein und auch Störungen unterliegen können. Kinder
mit vielfältig gestörten Lernvoraussetzungen können trotzdem
oder manchmal gerade deswegen gute oder sehr gute Schüler werden. Aus der
Beschaffenheit der Voraussetzungen läßt sich Rechenschwäche
also nicht ableiten - weder logisch noch empirisch (Schulz 1995, S.28-41, Röhrig
1996, S.125-158). Beispiele für Voraussetzungen sind so verschiedene Dinge
wie: Gehirn, Sinnesorgane, Wahrnehmung, Orientierung, Koordination, Interesse,
soziales Umfeld, Schule und vieles mehr. Weniges davon ist als Voraussetzung
für Lernen unbedingt erforderlich - z.B. Existenz eines Gehirns. Mängel
sind oft kompensierbar und manche Voraussetzung ist verzichtbar. Am rechenschwachen
Schüler seine fehlenden oder defizitären Voraussetzungen und Umweltbedingungen
zu ermitteln und in der Anhäufung und Entflechtung derselben so etwas wie
den Kern dieser Quasi-Eigenschaft zu finden, erscheint der gängigen sozialwissenschaftlichen
Betrachtung trotzdem völlig selbstverständlich. Fehlende oder defizitäre
Voraussetzungen des Lernens sind aber nicht selbst identisch mit individuellem
Lernen und nicht selbst der Inhalt des zu Lernenden. Sie sind - wie die logische
Unterscheidung bereits zu erkennen gibt - Voraussetzungen bzw. Bedingungen des
Lernens (Hegel 1969/1832-45, S.113-123). Sie verwandeln sich nicht in Folgen,
die aus ihnen möglicherweise entstehen könnten - auch nicht durch
theoriegeleitete Zusammenfassung wie beispielsweise Multifaktorialität
oder angenommene Beziehungsgeflechte. Voraussetzungen und Bedingungen des Lernalltags
sind unspezifisch gegenüber bestimmten Lernanforderungen an Individuen.
Es hängt vom Subjekt und seinen Aktivitäten ab, wie es sich auf die
Bedingungen seines Tuns bezieht. Eine Notwendigkeit für Versagen muß
aufzeigbare Gründe haben: Fehler und Mißverständnisse sind analysierbar!
Daß ein Kind etwas nicht versteht, ist im Einzelfall banal. Die Frage,
wer mit einer schlechten Lernvoraussetzung wie umgeht und ob ungünstige
Voraussetzungen von existierenden institutionellen Bildungsstrukturen und dem
darin tätigen Personal zu kompensieren beabsichtigt werden, bleibt offen.
Das Offenlassen solcher Fragen suggeriert die Komplexität der Rechenschwäche
und transformiert das individuelle Nichtverstehen, seine inhaltlich analysierbaren
Fehler und subjektiven Algorithmen in den systembezogenen Dispositionsbegriff
mit offener Ätiologie (Wember 1991, s.o.).
Vom Resultat her betrachtet erscheint das rechenschwache
Kind als rechenschwach wegen seines Versagens im Verstehen der Mathematik. Eine
Verdoppelung findet statt: Der Anlaß für die Frage nach der Kraft,
die diese Unfähigkeit verursacht, wird zum Grund für die Existenz
eben dieser gesuchten Kraft erklärt. Die Unfähigkeit zum Rechnen bildet
nun die sichtbare Oberfläche des vorgestellten Grundes ihrer Ermöglichung.
Diese Aufspaltung in ein Phänomen und die es bewirkende Kraft existiert
nur in der Vorstellung des Theoretikers. Das Schwäche-führt-zum-Versagen-Verhältnis
stellt sich als frei erfundener Begründungszusammenhang heraus (Hegel 1969/1832-45,
S.164-185).
Ein ökonomisches Interesse an der außerschulischen
Vermarktung der Rechenschwäche existiert. Das unterstellt einen Primärstandpunkt,
aus dem dieser Markt entstanden sein muß: Durch normalen Unterricht kann
diesen Kindern das Rechnen offenbar nicht beigebracht werden. Die Anforderungen,
die gestellt werden, sollten laut statistischem Durchschnitt und entwicklungspsychologischer
Normalität erfüllbar sein. Die Individuen, die nach ein, zwei oder
mehr Jahren erfolgten Unterrichts nicht rechnen können, gelten nun als
rechenschwach: Die rechenschwachen Schüler genügen - nach affirmativer
Lesart - dann deshalb den Anforderungen nicht, weil sie rechenschwach sind -
hier schließt sich der logische Zirkel! Die Auslese in der Schule stellt
einen Widerspruch dazu dar, jedem einzelnen Schüler das Rechnen beizubringen
- übrigens unabhängig davon, ob der Lehrer persönlich mehr für
das Lernen der Schüler oder mehr für den Standpunkt der Auslese eintritt.
Die Schule stellt Bildungsunterschiede her: Schüler, die mit schlechten
Voraussetzungen ihre Schulkarriere beginnen, werden so zwangsläufig im
Zuge der Gleichbehandlung gemäß dem Prinzip der Chancengleichheit
zu kommenden Versagern herangebildet. Forderungen nach inhaltsbezogener Diagnostik
und besserer fachdidaktischer Lehrerausbildung erweisen sich somit de facto
als eine idealistische Kritik am Auslesesystem, d.h. sie gehen an der Sache
vorbei:
"Wenn Prüfungen - wie es in einem kultusministeriellen Schreiben ausdrücklich heißt: - Wettbewerbscharakter haben, dann genügt es nicht, daß ein Prüfling nachweist, das vorangegangene Lernpensum erfolgreich bewältigt zu haben. Es kommt dann immer (zumindest auch) darauf an festzustellen, welche Lernenden besser oder schlechter sind als andere. Aufgaben, durch deren Lösung der Nachweis einer erfolgreichen Bewältigung des Lernpensums erbracht werden könnte, wären für die Prüfung unbrauchbar, wenn sie von (nahezu) allen Schülern einer Klasse einwandfrei gelöst würden oder unter schulisch üblichen Bedingungen gelöst werden könnten. Eine Aufgabe muß immer so formuliert sein, daß eine wünschenswert große Zahl von Schülern die Aufgabe nicht oder nicht vollständig löst. Insofern wird in Prüfungen - also in Schule und Unterricht - das Versagen, das Scheitern erzeugt. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, interindividuelles Quantum und intraindividuelles Ausmaß des Versagens - je nach Bedarf - zu steuern. Ich beschränke mich auf Stichworte: Festsetzung bzw. Änderung des Fehlerschritts; Verkomplizierung der Aufgabenformulierung; Verknappung der Bearbeitungszeit; Verknappung der Zeit zur unterrichtlichen Behandlung des zu prüfenden Stoffs; Einbau anderer, selektionseffektiverer Kontrollen..." (Heid 1987, S.74/75)
Die im Unterricht erfolgenden Lehranstrengungen
- bei gleichzeitig geltender pädagogischer Methodenfreiheit - haben einen
zeitlichen, strukturellen und inhaltlichen Rahmen, aus dem sie nicht heraustreten
können bzw. sollen. Prinzipiell enthält der so vorstrukturierte Ausleseunterricht
Lernhindernisse, die für ein kontinuierliches, kontrolliertes Lehren und
Lernen kontraindiziert sind. Widersprüche und Lernhindernisse durch vergleichendes
Bewerten wurden bereits von anderen Autoren an vielen Stellen schulischen Unterrichts
festgestellt und/oder mit Idealen des Lernens konfrontiert. Das Scheitern des
individuellen Lernens ist damit jedoch nicht erklärt und auch nicht kritisiert.
Eine grundsätzliche Infragestellung des Ausleseprinzips in der Schule kommt
bei solchen Autoren nicht vor (Radatz u.a. 1998, S.7-11, Gallin/Ruf 1990, S.8-26).
An verschiedenen, teilweise ineinandergreifenden
Gesichtspunkten schulischen Unterrichts soll nun eine Analyse der Folgen des
Auslesesystems für das Lernen erfolgen. Schule wird daran gemessen, wie
individuelles Lernen sich in ihr verwirklicht bzw. welche Hindernisse durch
Ausleseunterricht entstehen. Wenn Lehren und Lernen nicht der primäre Zweck
ist, muß vielfaches individuelles Scheitern die notwendige Folge sein:
So führt die Schule Auslese mit Erfolg durch - zu Lasten der Verlierer, die wie alle anderen an dieser Konkurrenz teilnehmen müssen. Dazu gehören die rechenschwachen Kinder, die sich durch den anhaltenden Druck immer tiefer in ihre Mißverständnisse und Phantasiefragmente verstricken, ohne überhaupt die Chance zum Verstehen zu erhalten. Solche individuelle Verschiedenheit - im Endstadium der Schülerkonkurrenz - ist nicht mit einem Mangel an Intelligenz oder defizitären Voraussetzungen zu erklären, sondern ist hervorgerufen durch Unterlassungen von individueller Betreuung und von Lernerfolgsdiagnostik (Ginsburg u.a. 1998) in gelaufenem Unterricht und durch trefferorientierte Leistungsanforderungen an Schüler, die durch die Teilnahme am Unterricht etwas anderes, Falsches gelernt haben, anstelle von Mathematik.
"Daß Menschen verschieden sind und daß individuelle Verschiedenheit auch gewünscht wird, ist nicht nur trivial, sondern an sich auch belanglos. Nicht trivial und nicht belanglos sind jedoch Fragen folgenden Typs: Unter welchen Bedingungen und Gesichtspunkten, zu welchen Zwecken und mit welchen Konsequenzen werden Menschen nicht nur miteinander verglichen und voneinander unterschieden, sondern individuelle Unterschiede zwischen Menschen und Menschengruppen allererst erzeugt?" (Heid 1988, S.12)
Die Frage, ob und wozu mathematische Grundbegriffe und Rechnen in der Grundschule gelernt werden, stellt sich für den Ausleseunterricht nicht. Zählen und Rechnen sind ein idealer Stoff, um - bereits bei kleinen Kindern, denen man abstrakte Einsichten zunächst nicht zutraut - einen Anreiz zum Wetteifer zu eröffnen. Treffer werden gezählt und Antworten gesammelt wie Gewinne und Nieten auf dem Jahrmarkt. Dabei wundert man sich, daß die Mehrheit der Kinder mit den Jahren die Mathematik, zwar fragmentarisch und eher zufällig, schließlich aber doch einigermaßen mitbekommt. In Bezug auf das Problem einer gewissen Anzahl von mathematischen Lernversagern hat sich die Schule, ohne dies selbst bewußt so eingerichtet zu haben, unter anderem durch den Rechenschwächebegriff gegen eine Kritik des ausleseorientierten Unterrichts gewappnet. Man kann sich durch das Konstatieren von besonders schwierigen Fällen, die in der Schule selbst nicht mehr aufgefangen werden können, als Lehrinstitution mit begrenzten Möglichkeiten der Förderung, von dem Vorwurf freisprechen, für die Produktion dieser Fälle in systematischer Weise verantwortlich gewesen zu sein.
"Was würde passieren, wenn ein Lehrer bei einer Schulaufgabe nur Sehr Gut herausbekäme? Eigentlich müßte ein solcher Lehrer begeistert sein; denn der deklarierte Zweck seines Unterrichts wäre optimal erfüllt. Aber was passiert tatsächlich? Eine solche Praxis und ein solcher Lehrer wären auf die Dauer unhaltbar (auch wenn eine solche Praxis durch keine Rechtsnorm verboten ist). Was heißt das praktisch? Unter gegebenen gesellschaftlichen und entsprechenden schulischen Bedingungen ist ein Lehrer (innerhalb bestimmter Grenzwerte) tendenziell umso besser, je weniger er das deklarierte Ziel seiner Arbeit erfüllt." (Heid 1987, S.75)
"Nicht die gesellschaftlichen Kriterien, Gründe, Bedingungen und Prozesse der Erzeugung von Ungleichheit, sondern deren Opfer werden als Problem dargestellt. ... Jedes individuelle Aufstiegsbemühen impliziert ein geradezu quantifizierbares Risiko des Scheiterns." (Heid 1988, S.9/10)
So paßt alles zusammen. Rechenschwache Schüler können als Sonderfälle eine besondere Berücksichtigung erfahren, ohne daß die Praxis der Auslese, die positiv mit geregeltem Lernversagen kalkuliert, in die Schußlinie gerät - ein versagendes Kind muß eben als lernkrank oder als an seinen systemischen Dispositionen gescheitert berücksichtigt werden.
"Die Tatsache, daß die
Forderung nach Chancengleichheit fast nur auf Personen bezogen, also an die
subjektive Seite des Zusammenhangs adressiert wird, durch den eine Chance definiert
ist, begünstigt den Eindruck, es hänge allein von diesen Individuen
ab, ob und wieweit sie diese Chance nützen. Dies wiederum begründet
die Annahme, es könne nur an individuellen, persönlichen Defiziten
oder Defekten liegen, wenn jemand seine Chance nicht wahrnimmt oder nicht wahrzunehmen
vermag." (Heid 1988, S.9/10)
4. Exkurs: Menschenbild
und Unterricht - z. B. Konstruktivismus
"Das Dumme mit Piaget und seinen Stadien ist, daß es einem jedesmal, wenn er ein Beispiel dafür gibt, so geht wie dem Helden bei Jerome K. Jerome (in drei Mann in einem Boot), der bei der Lektüre eines medizinischen Wörterbuchs bei sich die Symptome sämtlicher Krankheiten entdeckt. Man hat den Eindruck, man sei selber mittendrin, in jedem dieser piagetschen Stadien. Was mich angeht, so fühle ich mich jedenfalls ganz und gar präoperativ, denn mir erscheinen die Beziehungen von Ursache und Wirkung hier nur sehr schwach." (Baruk 1989/85, S.232)
Baruks Praktikergestus kommt nicht von ungefähr.
Sie hat die Arbeit der Fehleranalyse und Fehleraufklärung mit vielen verschiedenen
Schulkindern jahrelang betrieben. Ihr hat die Vorstellung eines sich ständig
äquilibrierenden Subjekts keinen Einblick in mathematische Fehler und subjektive
Algorithmen verschafft. Sie mußte sich ihre Einsichten ganz individuell
und mathematisch erarbeiten, wie jeder, der bestimmten Fehlern im individuellen
Denken auf den Grund gehen will.
Der bewußte Wille der Subjekte und seine
Leistungen kürzen sich in der piagetschen Erkenntnistheorie des Denkens
der Subjekte aus den Subjekten heraus. Das Besondere und Individuelle des so
entwicklungspsychologisch determinierten Nichtautomaten bleibt unfaßbar,
weil die angeblich determinierenden Kategorien nichts wirklich begründen,
sondern ausschließlich eine kategoriale Determiniertheit verplausibilisieren.
Solchen Kategorien ihre Abstraktheit als Gütesiegel und Kritik zugleich
zuzusprechen ist zwar ein Widerspruch, jedoch eine unter Pädagogen verbreitete
Beurteilungweise.
In die Rationalität der begrifflichen Ansätze
zu Rechenschwäche übertragen, lassen sich - mit einem solchen Menschenbild
gewappnet - alle Fehler, die ein Schüler mathematisch macht, aus der Rechenschwäche
herrührend erklären, in die sich diese Störung zusammenfassen
läßt. Damit läßt sich zwar kein einziger Fehler aufklären,
kein mathematischer Knackpunkt des Lernausstiegs bestimmen, aber ein imaginärer
Grund für mathematische Fehler schlechthin an den aktuell in der Schule
versagenden Subjekten festhalten: Die gemeinsame entwicklungspsychologische
Determiniertheit der unterschiedlichsten Subjekte erhält im Ausnahmezustand
der Störung ihre grundsätzliche Bestätigung.
Ein solches Menschenbild läßt beispielsweise
zu, Auslese in der Schule als eine von vielen Lernbedingungen beizubehalten.
Man kann das Individuum dabei trotzdem methodisch differenzierend berücksichtigen
und seine vielfältigen Defizite und schlechten Voraussetzungen im Auge
behalten. Ein weites Feld für psychologische und didaktische Modelle und
Debatten - jenseits der Grundlagen der Mathematik - tut sich auf: Kindgerechtheit,
modernes Lernmaterial, offener Unterricht, Lerntraining, das Lernen lernen.
Schulische Auslese erhält daneben implizit das Gütesiegel, man erfahre
durch Berichtszeugnisse, Noten und Versetzungen überhaupt erst vom Versagen.
Lernversagen kann wegen der im Menschenbild bereits vorgegebenen vielschichtigen
Verursachungsproblematik dann nicht mehr durch die Organisierung des Lernens
für die Auslese kritisiert werden. Auslese erscheint wie eine der schulischen
Organisation des Lernens äußerliche Randbedingung. In den Idealen
eines wünschbaren Unterrichts und seiner rein lernbezogenen Methodik hat
eine Kritik der Auslese daher keinen Platz (Gallin/Ruf 1990). Solche idealen
Unterrichtskonzepte werden gerne gelesen, zitiert und referiert. Auslese, lernfeindliche
Schülerkonkurrenz und zunehmendes Lernversagen in den Schulen bleiben davon
unberührt.
Wenn man berücksichtigt, daß in der
Grundschule nicht Mathematik unterrichtet wird, sondern Rechenunterricht im
negativen Sinne zwecks Auslese betrieben wird, erübrigen sich unterrichtsmethodische
Fragestellungen oder Überlegungen bezüglich des Menschenbildes: Die
Zwecksetzung des Unterrichts und des Lehrplans selbst steht in Frage. Die einzelnen
Schüler rücken bezüglich ihres individuellen Lernverhaltens,
darin enthaltener Anknüpfungspunkte für Fehleraufarbeitung und erkennbarer
Fortschritte in den Mittelpunkt des Interesses. Mangelhafte Kapazitäten
oder Fähigkeiten oder defizitäre Lernvoraussetzungen an ihnen zu entdecken,
dient vornehmlich einer legitimierenden Sortierung der Lernenden, nicht dem
Interesse der Förderung des Lernprozesses. Die Mathematik erfordert zu
ihrer Vermittlung, daß sie selbst und nicht ein aufbereiteter Abklatsch
mathematischer Techniken, Regeln und Schemata gelehrt und gelernt wird. Leistungen
und Erfolge haben nur ein einziges Kriterium: die kontrollierte und kontinuierliche
Erarbeitung mathematischer Abstraktionen und deren systematische Anwendung als
gesichertes Wissen bei jedem einzelnen Schüler - nicht mehr und nicht weniger!
Fehler und Irrwege des Denkens über die Mathematik sind dabei ein zwar
nicht notwendiges aber individuell hilfreiches Kontroll- und Lernmaterial. Unbelastet
von der von außen herangetragenen Konkurrenz für den Schülervergleich
ist der Dialog zwischen dem Lehrer und dem Schüler, sowie in der Gruppe
untereinander, Medium und Kontrollinstanz für Lernen und Lernerfolg. Erfolg
im Lernen stellt sich inhaltlich selbst dar und macht keine quantifizierende
Vergleichsmessung von Leistungen erforderlich.
Korrekten Mathematikunterricht und Lehrabsicht
vorausgesetzt, müssen Schüler, die bestimmte feststellbare Lernbehinderungen
haben oder schlicht langsamer oder umständlicher denken, im Lernen andere
individuelle Wege gehen, anders unterstützt werden, mit neuen Erfahrungen
konfrontiert werden usw. Es hilft also nichts, solche Schüler z.B. als
rechenschwache Schüler zu etikettieren, weil für sie in Mathematik
besondere Probleme auftauchen, sondern Lehren hat sich hier an aufzudeckende
individuelle Schwierigkeiten anzupassen - insofern gilt die selbstverständliche
Aussage, daß Denken subjektiv und individuell vonstatten geht. Dies bildet
eine Grundvoraussetzung für ernsthafte Lehrabsichten. Es kommt also darauf
an, Lernhindernisse zu beseitigen, individuelle Voraussetzungsmängel zu
kompensieren und gezielte individuelle Unterstützung zu leisten. Hierzu
trägt das konstruktivistische Paradigma nichts bei - es vernebelt allerdings
die wahren Gründe für individuelles Lernversagen in der Schule.
Gerade im Ausleseunterricht wird das Subjekt als
willensbegabtes angesprochen. Leistung bedeutet dort etwas anderes als schlichtes
Lernen und Verstehen. Dort wird dem Individuum selbstbewußt die Unterordnung
unter abstrakte Leistungsanforderungen und entsprechende Disziplin abverlangt
und bewertet. Hier glaubt niemand an den Nürnberger Trichter, doch der
Unterricht kodifiziert die geforderten Leistungen so, als ob Wissen und Verstehen
in einer solchen Struktur organisierbar sein müßten, weil so Wissensvermittlung
unter dem zweckleitenden Gesichtspunkt der Auslese ökonomisch durchführbar
und nutzbar wird. Der erfolgreiche Wille zu Leistungsbereitschaft, Teilnahme
und Konkurrenz ist in der schulischen Auslese das eigentliche Bewertungskriterium.
Die selbständige Aneignung von dem dafür notwendigen strategisch portionierten
Wissen stellt eine bloße Voraussetzung für Schulkarrieren dar. Der
Unterricht reflektiert sehr rigide und gezielt auf jedes einzelne Subjekt und
dessen individuelle Besonderheit. Insofern also berücksichtigt die Schule
schon immer alle Schüler sehr individuell. Konkurrenzgemäße
Disziplinierung der Subjektivität beim Lernen ist die moralisch-pädagogische
Leitlinie, an der Unterricht sich orientiert:
"Daß dem Pädagogen
das handwerkliche Tun einfällt, entspringt folglich allein seiner geheimen
Sehnsucht, den Erziehungsprozeß wie einen handwerklichen handhaben zu
können, in welchem das Objekt kein Subjekt mit eigenen Aktivitäten
ist, die den Bearbeitungsprozeß hemmen und erschweren können. Der
Wille des Schülers als Störungsquelle des intendierten Unterrichts,
das ist der alleinige Gegenstand, den die Methodik bzw. die Theorie der Erziehungsmittel
sich vornimmt. Sämtliche Methodenerörterungen behandeln deshalb auch
nicht die Frage, wie sich der Dreisatz, der Felgenumschwung, die englische Grammatik
oder das Hebelgesetz einem Haufen von Schülern am besten vermitteln läßt.
Vielmehr geht es um die Frage, wie die Vermittlung des vorgeschriebenen Pensums
in der vorgegebenen Zeit so hinzubekommen ist, daß - negativ formuliert
- der Wille des Schülers sich nicht als Störung der Unterrichtszwecke
bemerkbar macht. Oder wie sich - positiv formuliert - der nicht auf Linie liegende
Schülerwille als Instrument für das Gelingen des geplanten Unterrichts
einspannen läßt." (Huisken 1991, S.207)
5. Neudefinition der Rechenschwäche und neues Forschungsparadigma
Rechenschwäche ist eine durch Grundschulunterricht
induzierte Kognitionsstörung: Systematisches Falschlernen und/oder Nichtlernen
mathematischer Inhalte, bedingt durch ausleseorientierten Unterricht unter Chancengleichheitsbedingungen
und die damit einhergehende Unterordnung des Lernens der Mathematik unter auslesebedingte
Ökonomisierungen von Lerngegenstand und Unterricht.
6. Abwicklung der Rechenschwächeproblematik
heute - Fördern/§35a-KJHG
Als wesentliche Folge der beschriebenen Funktionalität
des Ausleseunterrichts entwickeln Kinder psychoneurotische Sekundärerscheinungen.
Diese Problematik kann nicht mit allgemeinpädagogischen und psychotherapeutischen
Mitteln überwunden werden. Da viele Auswirkungen des Ausleseunterrichts
als solche nicht erkannt und aufgenommen werden, müssen unspezifische Anstrengungen
ins Leere gehen. Gezielter wissensbezogener Neuaufbau eines Selbstbewußtseins
unter Berücksichtigung psychologischer Besonderheiten ist nötig.
Förderunterricht in der Schule verwaltet das
Schulversagen. Er stellt eine Maßnahme dar, die einen Versagensprozeß
mit den gleichen Mitteln bekämpft wie der Unterricht, der das Versagen
erst ins Rollen brachte. Die Schüler empfinden Förderunterricht deshalb
zurecht als Strafe bzw. zusätzliche Last. Bereits bestehende psychoneurotische
Sekundärfolgen sowie soziale Isolationsphänomene werden bestätigt
und befördert.
Gemäß dem Ausnahmezustand einer gescheiterten
Individualität (seelisch behindert oder davon bedroht) hat der Gesetzgeber
den §35a KJHG konzipiert. So besteht auch für Teilleistungsschwache
wie Rechenschwache und Legastheniker die Möglichkeit, in einer außerschulischen
Einrichtung eine Therapie zu erhalten, die behindertengemäß für
die Opfer des Ausleseunterrichts einen letzten Ausweg eröffnet, sich wieder
zu integrieren. Aber auch diese Ausnahmelösung muß beim Jugendamt
erkämpft werden.
Unter herrschenden Konkurrenzbedingungen verweist
eine solche Situation die Rechenschwachen auf den pädagogischen freien
Markt. Von privaten Einrichtungen werden Hilfsmaßnahmen für rechenschwache
Individuen angeboten: Rechenschwächetherapie (Qualitätsmaßstäbe,
Marktanalyse - vgl. Steeg 1999). Die Reaktionen sozialstaatlicher Gesetzgebung
auf die Konsequenzen aus dem Schulsystem in seiner vorliegenden Funktionalität
verweisen dabei auf individuelle Fürsorgenotwendigkeiten, die der Sozialstaat
anerkennt und als Kostenfrage zwischen der Allgemeinheit und den Betroffenen
abwickelt. Jeder Fall von Rechenschwäche muß gemäß dieser
Logik zuerst beim Jugendamt vorstellig werden und sich auf eine drohende seelische
Behinderung überprüfen lassen. Da dieser Nachweis in der Regel bei
Rechenschwäche über ärztliche oder psychologische Gutachten objektiv
führbar ist, bleibt als letzte Hürde in vielen Kommunen noch die bürokratische
Abwicklung als subjektives Auslesekriterium für eine definitive Zu- oder
Absage des Jugendamtes - wegen der Kosten für die Staatskasse!
"Wer hat denn Schulen eingerichtet?
Der Statt (Anm.: der Staat). Für wen hat er sie eingerichtet? Für
sich. ... und wenn die Väter durch Ihre Sorge für das Fortkommen
ihrer Söhne sich verleiten lassen, hiernach die Anlage der Ihrigen zu beurteilen,
so muß die Pädagogik sie vollständiger belehren. Sie kann sie
zuvörderst erinnern, daß der Statt sich um den minder tauglichen
auch minder kümmert. Seine Schulen sollen ihm die Subjekte liefern, die
er braucht. Er wählt die brauchbarsten, die übrigen mögen für
sich sorgen!" (Herbart 1984, 2.Bd./S.165)
7. Literatur
Autorenkollektiv der Rechenschwächetherapeuten
IML/RESI, Boerner, G. u.a.: Rechenschwäche verstehen. Eine Informationsschrift
zum Phänomen der Rechenschwäche von IML-Essen und RESI-Volxheim. -
Essen/Volxheim: Eigenverlag, 1998.
"Rechenschwäche
verstehen" - Informationsschrift für Eltern und LehrerInnen
Baruk, Stella: Wie alt ist der Kapitän? Über den Irrtum in der Mathematik. - Basel: Birkhäuser 1989.
Gallin, Peter; Ruf, Urs: Sprache und Mathematik in der Schule: auf eigenen Wegen zur Fachkompetenz. - Zürich: Verlag Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, 1990, Seelze: Kallmeyer 1998
Ginsburg, Herbert P.; Jacobs, Susan F.; Lopez, Luz Stella: The Teacher's Guide to Flexible Interviewing in the Classroom. Learning what Children know about Math. - Needham Heights: Allyn & Bacon, 1998
Glasersfeld, Ernst v.: Radikaler Konstruktivismus. Ideen, Ergebnisse, Probleme. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1996
Grissemann, Hans: Dyskalkulietherapie heute. Sonderpädagogische Integration auf dem Prüfstand. - Bern: Huber, 1996
Grissemann, Hans; Weber, Alfons: Grundlagen und Praxis der Dyskalkulietherapie. - Bern: Huber, 1990
Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik II. Theorie Werksausgabe Bd.6. - Frankfurt: Suhrkamp, 1969/1832-45
Heid, Helmut: Warum die Schule vielen Schülern und auch manchen Lehrern keinen Spaß macht. Über einige vernachlässigte Aspekte der Schul- und Unterrichtswirklichkeit. - In: Reinert; Dieterich (Hg.), Theorie und Wirklichkeit. Studien zum Lehrerhandeln zwischen Unterrichtstheorie und Alltagsroutine. Frankfurt-M.: Lang, 1987
Heid, Helmut: Zur Paradoxie der bildungspolitischen Forderung nach Chancengleichheit. - In: Zeitschrift für Pädagogik 34 (1988), S.1-17
Herbart, Johann Friedrich: Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. - In: J.G. Herbart, Pädagogische Schriften. Hg.: W. Asmus, 3 Bände, Düsseldorf: Küpper 1964/65, Neuauflage Stuttgart: Klett-Cotta, 1984/1982(alt)
Huisken, Freerk: Die Wissenschaft von der Erziehung. Einführung in die Grundlügen der Pädagogik. Kritik der Erziehung Teil 1. - Hamburg: VSA, 1991
Lorenz, Jens Holger: Anschauung und Veranschaulichungsmittel im Mathematikunterricht. Mentales visuelles Operieren und Rechenleistung. - Göttingen: Hogrefe, 1992
Lorenz, Jens Holger - Rezension von: Rolf Röhrig / Mathematik mangelhaft, Reinbek 1996. - In: Grundschule (1997) H.3, S.67
Meyer, Stefan: Was sagst du zur Rechenschwäche, Sokrates? Luzern: SHZ, 1993
Ministerium für Bildung und Kultur Rheinland-Pfalz: Problemen beim Lesen und Rechtschreiben vorbeugen! Informationen - Impulse - Ideen. - Mainz: Ministerium für Bildung und Kultur, 1994
Piaget, J.; Inhelder, B.: Die Entwicklung der elementaren logischen Strukturen, Teil 1 und 2, - Düsseldorf: Schwann, 1973/67
Piaget, J.; Inhelder, B.: Die Psychologie des Kindes. - Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verl., 1977/66
Piaget, Jean; Szeminska, Alina: Die Entwicklung des Zahlbegriffs beim Kinde. - Stuttgart: Klett, 1965/41
Radatz, H.; Schipper, W.; Dröge, R.; Ebeling, A.: Handbuch für den Mathematikunterricht 2. Schuljahr. Anregungen zur Unterrichtspraxis. - Hannover: Schroedel, 1998
Röhrig, Rolf: Mathematik mangelhaft. Fehler entdecken, Ursachen erkennen, Lösungen finden. Arithmasthenie/Dyskalkulie: Neue Wege beim Lernen. - Reinbek: Rowohlt, 1996 (RoRoRo-TB-Reihe: Mit Kindern Leben)
Schulz, Andrea: Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht der Grundschule. - Berlin: PAETEC, 1995
Steeg, Friedrich H.: Lernen
und Auslese im Schulsystem am Beispiel der Rechenschwäche. Frankfurt/M.:
Lang, 1996,
Steeg, Friedrich H.: Mein
Kind ist vielleicht rechenschwach - was nun ? - In: Erfolgreiche Elternarbeit
in der Schule (Handbuch), Ergänzungslieferung Februar, Augsburg: Kognos,
1999,
Weltgesundheitsorganisation WHO: ICD-10 Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V (F), Klinisch-Diagnostische Leitlinien. Dilling,H. / Mombour,W. / Schmidt,M.H. (Hg.), Bern: Huber, 1993.
Wember, Franz B.: Die Frühdiagnostik bei Rechenschwäche zwischen früher Förderung und früher Stigmatisierung. - In: J.H.Lorenz (Hg.), Störungen beim Mathematiklernen. Köln: Aulis Verlag Deubner, 1991 (IDM Reihe; 16)
Wolfensberger, Chr.: Konstitutionelle und psychologische Faktoren bei der Entstehung von Rechenstörungen. - Referat vom 21.03.81 ELPOS/Zürich: Schubi, 1981
außerdem:
Liste kommentierter
Literaturempfehlungen zu Rechenschwäche
von Resi-Volxheim und BIB-Essen
siehe auch: Entschliessung des Rates und der im Rat vereinigten Minister fuer das Bildungswesen vom 14. Dezember 1989 zur Bekaempfung des Schulversagens Amtsblatt nr. C 027 vom 06/02/1990 S. 0001 - 0002