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Rezension zum Buch:

Lorenz, Jens Holger - Lernschwache Rechner fördern. Ursachen der Rechenschwäche. Frühhinweise auf Rechenschwäche. Diagnostisches Vorgehen.
Lehrer-Bücherei: Grundschule, Cornelsen-Scriptor Berlin 2003, ISBN 3-589-05072-1


Erstveröffentlichung der Rezension in: Zentralblatt für Didaktik der Mathematik - International Reviews on Mathematical Education - Heft-3/Juni/2003

Dieses Buch ist allen LehrerInnen zu empfehlen, die in Grundschulen und Sonderschulen mit Kindern arbeiten, die Lernschwierigkeiten im Fach Mathematik haben. Meinungsverschiedenheiten, die zwischen Autor und Rezensent zum Thema Rechenschwäche bestehen, können bei dieser Buchempfehlung außen vor bleiben: Schulsystemkritik, Begriffsdefinitionsfragen, Kompetenzabgrenzungen usw. (siehe auch: http://www.rechenschwaecheinstitut-volxheim.de)

In diesem kurz und kompakt geschriebenen Bändchen geht es um den praktischen Zugang zu den alltäglichen - von den LehrerInnen getragenen - Entscheidungsprozessen im Schulalltag. Es geht darum, die Zuständigkeit der LehrerInnen einzufordern und ihre Kompetenz im Fach Mathematik herzustellen bzw. zu fördern. Lorenz leistet hier nützliche Aufklärungsarbeit.

Lorenz wird seinem Ruf und Anspruch in Sachen "Dyskalkulie" gerecht, indem er auf ca. 100 Seiten eine zweckmäßige Zusammenfassung seiner wichtigsten Erkenntnisse vorlegt. Dadurch werden auch die KollegInnen, die wenig Zeit und doch noch viel Informationsbedürfnis haben, entscheidende Informationen zum Thema Rechenschwäche/Dyskalkulie erhalten.

Lorenz formuliert klar sein erkennnisleitendes Interesse: Er will Denkprozesse der Lehrpersonen verändern, die beim Wahrnehmen von Fehlern, ihrer Häufung und ihrer Verfestigung ablaufen, beim Einschätzen des Kindes in vielen Facetten seiner Persönlichkeit und seines Umfeldes und den darauf abgestimmten Fördermaßnahmen (S.7). Lorenz ist in dieser Zwecksetzung zu unterstützen, wobei fortlaufend zu prüfen sein wird, ob seine Arbeit diesem Anspruch gerecht wird.

Diagnostik erklärt Lorenz konsequenterweise zum Dreh- und Angelpunkt unterrichtlicher Kompetenzen im mathematischen Bereich. Nur ein förderdiagnostisches Vorgehen kann das Problem an der Wurzel packen, denn Fehler sind das Produkt angestrengten Denkens der Kinder (S.17).

Es ist Lorenz gut gelungen, darzustellen, wie Kinder mathematische Vorstellungen entwickeln und worüber sie stolpern können. Anhand von Fallbeispielen und Fehleranalysen konkretisiert er sein Anliegen und macht die angesprochenen Themen greifbar und verständlich.

Lorenz leistet nützliche Pionierarbeit zum Thema der Benutzung von Veranschaulichungsmitteln im Unterricht (vgl. auch Lorenz 1992 zum gleichen Thema) und besonders bei der Förderung rechenschwacher Kinder (S.28): Es gelingt ihm in aller Kürze, die Tücken und Widersprüchlichkeiten in der Anwendung mathematischen Lehrmaterials zu erklären, die vielen LehrerInnen noch nicht oder zumindest nicht hinreichend aufgefallen sind. So manchem, der sich mit den Gedanken rechenschwacher Kinder noch nie gezielt auseinandergesetzt hat, fallen solche Aspekte gar nicht erst auf, weil der sogenannte "gesunde pädagogische Menschenverstand" von Eltern und LehrerInnen meistens hartnäckige didaktische Fehl- und Vorurteile enthält und diese im Schulalltag fortschreibt.

Lorenz weist darauf hin, dass die Verwendung von Lehrmitteln eine eigene Anforderung an die Kinder darstellt, der sie zusätzlich gerecht werden müssen, d.h. nicht jedes Kind kommt mit den Lehrmitteln zurecht oder kann sie für seine Vorstellungsentwicklung nutzen. Ein Festlegen auf bestimmte Lehrmittel kann somit für einzelne Kinder zu einer irreführenden Überforderung führen, neben den sowieso bereits vorhandenen Lernproblemen, die das Kind mit Zahl und Rechnen hat. Vom Standpunkt einer effektiven Mathematikförderung bzw. Rechenschwächetherapie ist Lorenz in dieser Kritik unbedingt zu unterstützen.

Lorenz wendet sich gegen Üben als Lehrmethode (S.39), räumt aber ein, dass Übung nötig ist, um eigene Lernwege - eine tragfähige Verständnisgrundlage vorausgesetzt - überhaupt für sich entdecken zu können bzw. eigene Entscheidungskriterien für die eine oder andere Lösungsmethode entwickeln zu können. Er propagiert eine Vorgehensweise, die es den Kindern ermöglicht, Lern- und Denkwege auszuprobieren, ohne dabei genormten Lehrsätzen und Techniken mit mangelhaftem oder gar völlig fehlendem Verständnis folgen zu müssen (S.40).

Lorenz öffnet den LeserInnen die Augen darüber, dass es ein Irrtum ist, zu glauben, Mathematik bestehe in bloßem Rechnen (vgl. Baruk 1989 - Wie alt ist der Kapitän?). Dies wird derzeit noch den Schülern im Grundschulunterricht als Sichtweise nahegelegt. Auf einer solchen Grundlage entwickeln Schüler denkfeindliche Lernhaltungen, was sie auch in späteren Jahren von einem problemorientierten Lernen mit schlußfolgernden Überlegungen regelrecht fernhält.

Lorenz beschreibt die zentrale Rolle der Fehleranalyse im diagnostischen Vorgehen bei mathematischen Lernproblemen und stellt Fehlertypen und Schwierigkeiten mit Sachaufgaben sowie diesbezügliche Hilfen dar (S.59). Dass Fehleranalyse nicht die schematisierte Anwendung eines Diagnoserasters sein darf, deutet Lorenz zwar an, führt dieses heikle Thema jedoch nicht in der nötigen Breite aus. Die Fragestellung, wie ein professionell geführtes Arbeitsgespräch (klinisches Interview) mit dem Kind zu den individuellen Informationen über sein mathematisches Denken und seine Fehler hinführen kann, wäre der eigentliche methodische Schlüssel dazu, die Fehleranalyse zum wirksamen diagnostischen Mittel werden zu lassen. Dieser Zusammenhang kommt im Buch leider zu kurz. Da helfen die angebotenen Fehlertypentabellen nicht, denn genau die könnten - erst recht und gegen die Absicht des Autors - als rein schematische Testanweisung für ansonsten mathematisch nicht ausreichend informierte LehrerInnen mißverstanden werden.

Lorenz versteht es, die Prinzipien eines guten Unterrichts und einer Schule, die die Entwicklung von Rechenschwäche zu verhindern sucht, den LeserInnen näher zu bringen (S.93). Er zählt in wenigen Unterkapiteln zielsicher die entscheidenden Gesichtspunkte auf, führt sie aus und wendet sich kritisch gegen diesbezügliche didaktische Mißstände, die man derzeit in den Schulen vorfindet.

Dem Autor ist rückhaltlos beizupflichten, wenn er tiefgreifende Standpunkt- und Methodenänderungen im Mathematikunterricht der Grundschulen anmahnt. In Ermangelung diagnostischer Kompetenz werden viele Fehler gemacht und oftmals die richtigen Hilfestellungen unterlassen. Konzepte für Fördermaßnahmen sind oft nicht vorhanden oder völlig kontraproduktiv, wie z.B. sinnlose Übungsstunden, Vermittlung von Rechentricks, Gruppenförderung statt Einzelförderung, reine Stoffwiederholungen als Förderung usw..

Dass die Förderung von Kindern mit Rechenschwäche genuin eine Aufgabe der Schule ist, erwähnt Lorenz nicht zufällig und sollte hier nicht mißverstanden werden. Dies ist nicht eine "Revierabgrenzung", durch die außerschulische Helfer von den "genuin schulischen Aufgaben" ferngehalten werden sollen, sondern Lorenz setzt selbstbewußte Maßstäbe für das, was die Schule zu leisten hätte, derzeit jedoch nicht leistet (S.108). Die Frage, warum nicht bereits in den letzten Jahrzehnten begonnen wurde, solche Maßstäbe im Schulalltag tatsächlich umzusetzen, stellt Lorenz nicht und beantwortet sie deshalb auch nicht. Konsequent wäre es von Lorenz, der ein solches Buch wie das vorliegende geschrieben hat, diese Frage demnächst einmal zu stellen und zu diskutieren!

Die von Lorenz angemahnte Aufgabenstellung existiert derzeit nicht im Sinne einer durchgesetzten praktischen Wirklichkeit an deutschen Schulen. Sein Buch macht jedoch indirekt klar, dass die Schule diese Aufgabenstellung für sich reklamieren müßte, wenn sie nicht tendenziell der Privatisierung der Allgemeinbildung Vorschub leisten und - wie bisher bereits - hinterherlaufen will.

Friedrich H. Steeg, webmaster@rechenschwaecheinstitut.de
Volxheim den 28.05.2003
http://www.rechenschwaecheinstitut-volxheim.de


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