"Spätestens zum Beginn der Schulzeit ist alles wieder ganz normal. Spätestens
dann haben Frühgeborene in der Regel den Anschluss an die normale Entwicklung
gefunden." Diese oder ähnliche Aussagen
werden Frühcheneltern regelmäßig hören, wenn sie danach
fragen, wie es denn später mal weiter
gehen wird. Damit ist dann die Zukunftsproblematik vorläufig abgehakt.
Es kann schließlich
alles nur besser werden.
Das
haben wir auch gedacht. Die Probleme der Anfangsphase unserer in der 30. SSW
geborenen Zwillingsmädchen waren fast schon vergessen (oder besser gesagt
verdrängt). Langzeitbeatmung, lebensbedohende Infektionen, Gehirnblutung,
Reanimation etc. etc. etc. – die
Liste ließe sich leicht fortsetzen – hielten uns damals in
Atem und boten täglich neue Überraschungen. Dazu noch ein paar körperliche
Probleme, die uns auf Dauer begleiten würden. Damit hatten wir uns arrangiert.
Außerdem war die medizinische
Versorgung stets auf absolutem Topniveau. So fühlten wir uns auch meistens
gut aufgehoben und betreut.
Nun
gut, die Mädchen wiesen Entwicklungsverzögerungen auf. Ganz normal
bei Frühchen. Sie sind außerordentlich schüchtern, ja ängstlich
insbesondere gegenüber neuen Situationen. Das würden wir schon in
den Griff kriegen. Trennungsprobleme noch im Kindergarten? Haben andere Kinder
auch. Mit anderen Kindern spielen? Lieber nicht. Zwillinge sind halt sehr aufeinander
fixiert, auch wenn wir seit dem
Kleinkindalter darauf geachtet haben, unsere beiden regelmäßig mit
anderen Kindern zusammen zu bringen. Aber auch das kriegen wir schon hin.
Aller
Anfang ist schwer
Schließlich
rückt die Schulzeit näher. Die Einschulung steht bevor. Wären
die Kinder "normal" geboren,
nämlich nach dem 31. Juli, wären sie so genannte "Kann-Kinder". Die
Schulpflicht hätte
damit erst ein Jahr später eingesetzt. So sind sie aber im ersten
Halbjahr zur Welt gekommen und
deshalb auf einmal "Muss-Kinder". Nach dem Grund fragt da erst mal niemand.
Pflicht ist Pflicht und die Schulpflicht eine ganz besondere. Uns beschleicht
allerdings schon das Gefühl, dass es für unsere Kinder doch noch etwas
zu früh ist und sie eigentlich noch nicht richtig schulreif sind. So entscheiden
wir uns für einen Zurückstellungsantrag, um den Zwillingen noch ein
Jahr Entwicklungszeit geben zu können. Dem Antrag wird unter dem Hinweis
auf die Vorgeschichte auch problemlos stattgegeben.
Für
ein weiteres Jahr Kindergarten sind die Kinder allerdings eigentlich zu alt.
Und sie selbst wollen auch
nicht länger dort bleiben, nachdem die Gleichaltrigen ja jetzt in der Schule
sind. "Sitzenbleiben" im Kindergarten
– gibt´s denn so was? Also entscheiden wir uns für den
Besuch der Vorklasse in der Grundschule, die auf Grund der vorgeschriebenen
Schulbezirksgrenzen in einem Ort in Hessen an der Grenze zu Rheinland-Pfalz
für uns zuständig ist. Die Frage, ob sie für unsere Kinder auch
die richtige Schule sein würde,
hatte nicht zu interessieren und sollte auch erst später Bedeutung erlangen.
Die professionelle Betreuung in der Vorklasse durch eine Sozialpädagogin,
die auch noch das richtige Gespür im Umgang mit den Kindern hat und auf
reichlich Erfahrung zurückgreifen kann, tut den Kindern gut. So werden
sie im Grunde optimal auf den anschließenden Schulbesuch vorbereitet. Die
Trennungsprobleme, die sind
immer noch da. Schüchtern und ängstlich sind die beiden auch
immer noch. Aber das würden wir ja in den Griff kriegen.
Im
nächsten Jahr ist es dann soweit. Noch einmal Einschulung, diesmal aber
in eine "richtige" erste Klasse.
Was ist das für ein Gefühl so große Kinder zu haben, die es jetzt
locker mit der großen weiten
Welt aufnehmen würden! Die Schule beginnt mit allen positiven Erwartungen
für die Zukunft, Kinder und
Eltern sind motiviert, neugierig auf den neuen Lebensabschnitt. Jetzt sollte
alles gut werden. Noch dazu
haben wir das Glück, dass unsere Kinder zu einer Klassenlehrerin kommen,
die ein "Händchen"
für sie hat. Auch die Kinder schließen sie gleich ins Herz. Es ist
fast schon so etwas wie "Liebe
auf den ersten Blick".
Aber
Schule ist eben kein Kindergarten mehr. Jetzt ist plötzlich nicht mehr
Spielen angesagt, sondern Leistung wird verlangt. Zwar anfangs noch moderat,
aber durchaus mit zunehmender Tendenz. Während
andere das sozusagen mit Links erledigen, entwickeln unsere zunehmend Aversionen
gegen die Schule. Ach ja – die Trennungsprobleme sind auch noch da und
die Schüchternheit und Ängstlichkeit natürlich auch. Das wollten
wir ja in den Griff kriegen. In Wirklichkeit schien es jetzt aber eher umgekehrt.
Das Thema Schüchternheit und Ängstlichkeit bekam uns in den Griff.
Sich im Unterricht beteiligen war
schier unmöglich. Selbst melden, wenn man etwas weiß? Um Himmels Willen!
Wird man von der
Lehrerin angesprochen, verkriecht man sich in sich selbst und wenn auch das
nichts hilft, am besten unter dem
Tisch. Was sich für Außenstehende ein bisschen witzig anhören
muss, nimmt aber für
uns inzwischen durchaus
dramatische Züge an. Irgendwie reagieren unsere Kinder nicht erwartungsgemäß
auf die schulischen Anforderungen, entwickeln Aversionen insbesondere gegenüber
Mathematik, sind zu langsam und unkonzentriert, erledigen auch in anderen
Fächern nur unwillig ihre
Hausaufgaben, bereits ausführlich
erklärte Dinge müssen zum wiederholten Male erklärt werden, endlose
Diskussionen, Verweigerung und Streitereien, Belohnungen und Strafen, Ratlosigkeit…
Und das schon zu Beginn
der Grundschule. Wie soll es denn später mal weiter gehen?
Überfordern
wir unsere Kinder? Sind wir vielleicht selbst überfordert? Machen wir alles
richtig? Macht die Schule alles richtig? Sind unsere Kinder etwa dumm und ein
Fall für die Sonderschule?
Selbstverständlich
stehen wir ständig in Kontakt mit der Schule, insbesondere mit
der Klassenlehrerin. Wir kriegen das nämlich in den Griff. Wir brauchen
nur etwas Zeit. Die aber gibt uns jetzt keiner mehr. Dazu
kommt uns auch noch PISA in die Quere. Pflicht ist Pflicht und Leistung ist
Leistung. Für Problemfälle
ist kein Raum.
Lernprobleme
nehmen zu
Das
zweite Schuljahr hat begonnen. Es wird ernst. Man bittet um ein Gespräch.
Insbesondere die Ängstlichkeit
macht zunehmend Probleme in der Schule. In Mathe gibt es besondere Schwierigkeiten.
Einfachste Aufgaben wollen nicht klappen. Oft ist vollständige Leistungsverweigerung
die Folge. Von autistischen
Zügen ist gar die Rede. Es muss etwas getan werden. Leicht gesagt –
aber was? Und wer
könnte uns helfen?
Dann
fällt auch noch unsere verständnisvolle Klassenlehrerin aus gesundheitlichen
Gründen aus und scheidet
aus dem Schuldienst. Unsere Kinder fallen in ein Loch. Erst nach längerer
Zeit der Vertretung mit ständig wechselnden Lehrern kommt Ersatz. Aber
der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ist leider
nicht möglich.
Wir
konsultieren schließlich einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie.
Wartezeiten von mehr als einem
halben Jahr für eine medizinische Beratung waren uns bisher fremd. Bei
drängenden Problemen
auch absolut inakzeptabel, sind sie dennoch traurige Realität.
Was
jetzt folgt, sind zunächst einmal endlose Testverfahren. Die Ergebnisse
sind in gewisser Weise zunächst
ermutigend, denn unsere Kinder sind nicht dumm, wie wir befürchtet hatten.
Sie haben eine normale,
durchschnittliche Intelligenz. Das bestätigen ja auch ihre guten Leistungen
in anderen Fächern wie Deutsch oder Sachkunde. Und wieso können sie
dann nicht rechnen? Weil beide Kinder offenbar unter einer Teilleistungsstörung
leiden, die auch als Rechenschwäche oder Dyskalkulie
bezeichnet wird. Lese-/Rechtschreibschwäche
bzw. Legasthenie, ja das war uns bekannt, aber
Dyskalkulie – nein,
davon hatten wir nie zuvor gehört. Werden wir das in den Griff kriegen?
Die
Diagnose: Dyskalkulie
Dyskalkulie
kann man durchaus in den Griff kriegen. Dazu benötigt man vor allem Zeit,
Ausdauer und professionelle
Hilfe in Form außerschulischer Fördermaßnahmen durch spezielle
Lerntherapeuten. Außerdem ist es von Ausschlag gebender Bedeutung, dass
die Schule betroffene Kinder unterstützt, fördert und von dem enormen
Leistungsdruck entlastet, dem sie ansonsten nicht gewachsen sind.
Die Kinder haben einen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Die Schule muss
allerdings begreifen, dass Dyskalkuliker (welch furchtbares Wort!) im Mathematikunterricht
tatsächlich nicht können
können, was andere selbstverständlich können. Soll heißen,
Dyskalkulie ist in der Tat eine Art Behinderung, für die die Kinder keinerlei
Schuld tragen, etwa, weil sie faul wären oder unmotiviert (die Lernstörung
wurde bei unseren Kindern vom zuständigen
Versorgungsamt als Behinderung im Sinne des Schwerbehindertenrechts anerkannt!).
Erst wer das verstanden hat, kann einigermaßen nachvollziehen, weshalb
5 +1 für ein Dyskalkuliekind 51 ist und nicht 6. Ob tatsächlich
daran jemand Schuld hat und wer,
soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es scheint sich allerdings
immer mehr herauszukristallisieren, dass Mädchen stärker betroffen
sind als Jungs und die Frühgeburt dabei offenbar eine gewisse Rolle zu
spielen scheint.
Mathegenies werden sie nie werden. Das müssen sie aber auch nicht. Aber Alltagsrechnen müssen sie beherrschen und zumindest soviel, dass sie in der Schule einigermaßen mithalten können. Doch bis dahin ist es ein langer und steiniger Weg!
Eltern
müssen lernen
Wir
haben gerade als Eltern nun viel zu lernen über das Problem unserer Kinder.
Wir lernen, dass Dyskalkuliekinder wenig oder gar kein Verständnis für
Mengen und Zahlen haben und Rechenabläufe mechanisch durchgeführt,
aber nicht verstanden werden. Wir lernen auch, dass es bei Dyskalkulie
übliche Verhaltensauffälligkeiten gibt, wie z. B. Angst vor
der Schule, insbesondere natürlich vor dem Matheunterricht und den Klassenarbeiten.
Ständige Misserfolgserlebnisse trotz erheblichem Lernaufwand und völliges
Unverständnis für mathematische Aufgabenstellungen führen auch
zu Abwehrreaktionen gegenüber häuslichen Hilfestellungen bis zu völliger
Verweigerung ("Wir sind ja sowieso blöd!").
Über die Hausaufgaben haben wir gezwungenermaßen – die
Kinder müssen in der Schule die geforderte
Leistung bringen, obwohl sie es nicht können – den täglichen
Kampf durchzustehen das nachzuholen, was in der Schule nicht verstanden wurde.
Das ist für uns alle zermürbend und absolut frustrierend. Es ist wirklich
kaum noch zu ertragen. Wir sind mit den Nerven am Ende.
Weitgehend
unbestritten ist inzwischen, dass die Spirale aus Selbstzweifeln und Schuldgefühlen
in Versagerkarrieren münden
und zu neurotischen Fehlentwicklungen führen kann. Und erste Manifestierungen
in Form von Entwicklungsstörungen mit hochgradiger sozialer Verunsicherung
wurden im Rahmen der Testverfahren
bei unseren Kindern bereits festgestellt. Wir bemühen uns also
auch um entsprechende Therapieplätze bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
Wenn da nicht wieder die langen
Wartezeiten wären.
Finanzielle
Unterstützung der außerschulischen Lerntherapie
Außerschulische
Rechentherapie ist dringend notwendig. Die Kosten dafür sind beträchtlich,
werden aber in entsprechenden Fällen für bestimmte Zeit vom
Jugendamt übernommen. Also Antragstellung beim für den Wohnort zuständigen
Jugendamt. Erneut sind Testungen erforderlich. Die Vortestungen stammen aus
Rheinland-Pfalz und werden in Hessen nicht anerkannt. Wieder mehrwöchige
Wartezeiten. Vor einer Kostenzusage
darf die Therapie aber nicht beginnen. Gott erhalte uns die Bürokratie!
Die Dyskalkulie wird erwartungsgemäß bestätigt. Die Kostenzusage
folgt. Das scheint heute angesichts
zunehmend knapper öffentlicher Kassen jedoch nicht mehr überall selbstverständlich.
Oft werden berechtigte Ansprüche mit fadenscheinigen Argumenten abgewiesen.
Zwischenzeitlich
machen wir uns bereits auf die Suche nach einem Lerntherapeuten. Wer
macht so was? Wer kann so was? Wer ist für unsere Kinder auch persönlich
geeignet? Wer nimmt gleich Zwillinge im Doppelpack? Wo sind die Wartezeiten
am kürzesten? Wir finden ein geeignetes Institut
am anderen Ende der Stadt.
Bildungspolitische
Fallensteller
Von
allen bis dahin zu Rate gezogenen Therapeuten wird übereinstimmend empfohlen,
die Benotung im Fach Mathematik
im Rahmen der innerschulischen Unterstützung auszusetzen und die Kinder
außerdem durch andere "flankierende Maßnahmen", z.B. durch Erleichterungen
bei den Hausaufgaben, weitgehend
vom Schulstress in Mathe zu entlasten. Für die Notenaussetzung existieren
für den Bereich
der Legasthenie bereits besondere Vorschriften in den einzelnen Bundesländern,
nicht jedoch für Dyskalkulie.
Wir
setzen uns direkt mit dem Kultusministerium in Verbindung und freuen uns über
die telefonische Auskunft, dass das alles kein Problem sei. Man müsse mit
der Schule reden und einen so genannten Antrag auf Einzelfallregelung beim Staatlichen
Schulamt stellen. Aha, so einfach ist das? Wir reden mit der Schule. Unser Ansinnen
wird brüsk zurück gewiesen. Eine Notenaussetzung komme nicht in Frage.
Dafür gäbe es keine rechtliche Grundlage. Die Kinder müssten
schon den Anschluss behalten. Wo
leben wir eigentlich, fragen wir uns. Die Schule kümmert sich nicht darum,
dass die Kinder im Unterricht
mitkommen. Ihr Auftrag nach dem Schulgesetz zur Förderung der individuellen
sozialen, emotionalen und
kognitiven Entwicklung und drohendem Leistungsversagen präventiv zu begegnen,
scheint wohl nur auf dem Papier zu stehen. Vorhandene Vorschriften zur "Förderung
von Kindern mit Lernschwierigkeiten
und Lernstörungen in der Grundschule" werden schlichtweg ignoriert.
Dass
von uns Eltern verlangt wird, im Unterricht nicht Verstandenes über die
Hausaufgabenüberwachung zu Hause nahezu mit Gewalt in die Kinder hineinzubringen,
empfinden wir inzwischen als scheinbar legalisierte und auf die Eltern delegierte
Form der Kindesmisshandlung.
Dies
machen wir in einem Schreiben an die Kultusministerin deutlich, die wir angesichts
des offensichtlichen politischen Zielkonflikts um Hilfestellung bitten. Wir
müssen erfahren, dass man sich auf der Ebene der Kultusministerkonferenz nicht
auf eine bundesweit einheitliche Vorgehensweise habe
einigen können, dass Hessen aber eine Vorreiterrolle für den
Bereich der Dyskalkulie auf der
Grundlage der vorhandenen
Regelungen zur Legasthenie übernehmen wolle. Bis dahin sei eine Einzelfallregelung
beim Schulamt zu beantragen. Gesagt getan. Ausgestattet mit dieser doch positiven
Grundaussage werden wir umgehend
beim Schulamt vorstellig. Das kriegen wir in den Griff.
Doppelgegner
Schule und Schulamt
Offenbar
will man davon beim Schulamt aber nichts wissen. Der zuständige Schulpsychologe
hält von einer Notenaussetzung persönlich rein gar nichts. Die Kinder
müssen lernen sich aus schlechten Noten
nichts zu machen, so seine These. Inzwischen seien die Kinder ja in der dritten
Klasse und bald stehe der Übergang zur weiterführenden Schule
an. Und da gäbe es definitiv keinen "Notenschutz". Eine
Einzelfallentscheidung sei bis jetzt noch nie getroffen worden. Ausnahmen seien
auch nicht zulässig. Man müsse mit der Schule zusammen einen
Förderplan erstellen. Unseren Antrag, den wir ja auf persönliches
Anraten der Kultusministerin gestellt hatten, sollten wir also besser zurück
nehmen. Das tun wir nicht. Stattdessen erheben wir gegen das Schulamt Dienstaufsichtsbeschwerde
beim Kultusministerium als oberste Schulaufsichtsbehörde, um unserem Anliegen
etwas mehr Nachdruck zu verleihen.
Von
einem Förderplan wird zwar ständig geredet – passiert ist aber
rein gar nichts. Wir fühlen uns, als würde uns die sprichwörtliche
Wurst vor die Nase gehalten. Wenn wir danach schnappen, wird
sie weg gezogen. Auf die Dienstaufsichtsbeschwerde erhalten wir noch
nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Nur einen kurzen Anruf der zuständigen
Referentin, die zuvor mitgeteilt hatte, es
sei alles kein Problem.
Jetzt sagt sie nur einen Satz: "Das ist schwierig." Den sagt sie dafür
aber gleich zweimal. Was
soll man davon halten?
Das
dritte Schuljahr neigt sich seinem Ende zu und nichts ist auf schulischer Ebene
geschehen. Die Zeugnisse
gehen gnadenlos auf die Kinder nieder. In Mathe haben sie zwar noch eine "Vier"
geschafft,
aber ausdrücklich wird ihnen bescheinigt, dass die mündlichen Leistungen
"weiterhin ausreichend bis mangelhaft sind". Das schlägt auch auf
alle anderen Noten durch, z. B.
in einem Fach wie Deutsch, in dem sie stolz darauf waren schriftlich
auf "Eins" bzw. "Zwei" zu stehen. Sie sind völlig am Boden zerstört.
Nachdem eines der Mädchen feststellt, dass es wohl besser wäre, sie
würde nicht mehr leben, sind wir völlig fassungslos. Noch am
Tag der Zeugnisausgabe erheben wir bei Schule und
Schulamt Widerspruch gegen die Zeugnisse und bitten um einen Gesprächstermin.
Das
Kultusministerium lässt pünktlich zu Beginn des vierten Schuljahres
medienwirksam verkünden, Dyskalkuliekindern
in Hessen würden vom nächsten
Schuljahr an keine Noten in Mathematik mehr erteilt. Für uns kommt das
zu spät. Das Schulamt lässt sich auch von dieser klaren politischen
Aussage
in keiner Weise beeindrucken, sondern spielt weiter auf Zeit. Die Erlasslage
sei uns hinreichend bekannt,
heißt es.
Ende
mit Schrecken ermöglicht Neubeginn
Die
Schule versteht unseren Widerspruch wohl als nie da gewesenen Affront und nicht
als legitimes rechtsstaatliches Instrument zur Überprüfung öffentlich-rechtlicher
Entscheidungen. Zunächst erfolgt keine Reaktion. Schließlich wird
auf Nachfragen unsererseits jedes Gespräch verweigert. Man
wolle der Entscheidung einer "höherrangigen Instanz" nicht vorgreifen.
Was den der Schule anvertrauten Kindern angetan wird und was in ihnen vorgeht,
interessiert diese Schule nicht im Mindesten. Stattdessen
wird uns aber von der Schulleitung allen Ernstes vorgeworfen, den Schulfrieden
und die Gesundheit
des Lehrerkollegiums negativ zu beeinflussen. Es ist blanker Hass, der uns da
per Post entgegen schlägt.
"Wenn das Gespräch endet, endet die Menschlichkeit", so ein Zitat von Bert Brecht. Wie Recht er doch hatte. Wir können es jetzt nicht mehr länger verantworten unsere Kinder an dieser Schule zu lassen, zumal der Druck wächst und sie von den Lehrern inzwischen getriezt werden. Sie haben einfach nur noch Angst vor dieser Schule und gehen jeden Morgen nur unter Tränen aus dem Haus. Nach den Herbstferien wechseln sie an eine Grundschule in kirchlicher Trägerschaft in RheinlandPfalz. Den Wechsel so blitzschnell im laufenden Schuljahr zu bewerkstelligen, ist nicht einfach. Wir haben dabei aber viel Unterstützung aus dem Familien- und Bekanntenkreis erfahren. Dafür sind wir sehr dankbar, ebenso der neuen Schule für die schnelle Hilfe und für den Vertrauensvorschuss, den sie uns entgegen bringt. Und die Kinder freuen sich auf ihre neue Schule.
Was
jetzt?
Schule
ist mit der Förderung von Kindern mit Lernstörungen leider oft einfach
überfordert oder erst gar nicht in der Lage, diese zu erkennen. Lehrer
sind in dieser Beziehung häufig nur mangelhaft ausgebildet
oder wissen nicht einmal, dass es Dyskalkulie gibt, geschweige denn, wie sie
betroffenen Kindern helfen
sollen. Sie haben oft keine Zeit oder kein Interesse, sich mit zusätzlichen
Problemen auseinanderzusetzen.
Die Realität straft nicht nur nach unserer Erfahrung alle theoretischen
Vorgaben in Schulgesetzen,
Erlassen oder Verordnungen Lügen. Wir erwarten mittlerweile nicht mehr,
dass eine optimale schulische Förderung
unserer Kinder gewährleistet wird, sondern hoffen nur
noch auf verständnisvolle
Lehrer, die ihnen das Gefühl geben können: ihr seid nicht dumm, sondern
habt nur ein Problem, das wir akzeptieren. Wir helfen euch mit diesem
Problem umzugehen und euren Weg
zu machen. Die Kinder müssen wieder Spaß am Lernen gewinnen
und ihre Angst vor der Schule verlieren.
Vielleicht hat unsere Geschichte irgendwann ja doch ein Happy-End.
Fazit