Michael
Gaidoschik - Wie Kinder rechnen lernen - oder auch nicht (Dissertation).
Eine empirische Studie zur Entwicklung von Rechenstrategien im ersten
Schuljahr. Verlag
Peter Lang, Frankfut/M., Berlin, Bern, Brüssel, New York, Oxford,
Wien 2010, ISBN 978-3-631-59519-0 (Dissertation)
Weitere Links zum Buch:
Neue Homepage des Autors (Seite zum Buch): Das Recheninstitut (Wien/Graz)
Infoseite des Autors zu seinem Buch: Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse der Dissertation von Michael Gaidoschik
Neue Rezension (Januar 2013) zur Dissertation von Michael Gaidoschik von Wolfram Meyerhöfer auf Seite 61-68 in: Mitteilungen der GDM (Gesellschaft für Didaktik der Mathematik ) Heft 94, Januar 2013
Rezension (Januar 2012, Erstveröffentlichung) von Friedrich H. Steeg
zur Dissertation von Michael Gaidoschik:
Gaidoschik sieht in der "Möglichkeit der Intervention bei sich
abzeichnender Negativentwicklung" eine der wichtigsten Aufgaben von
MathematiklehrerInnen. Hierfür ist nach Gaidoschik (S.17)
"... ein umfassendes Wissen darüber erforderlich, welche
Lermprozesse manche Kinder im Laufe der Zeit dazu befähigen, zählende
Strategien durch nicht-zählende (Faktenabruf und Ableitungen; Kap.2.1)
zu ersetzen und aus welchen Gründen andere Kinder ebendies nicht
oder nicht in ausreichendem Maße oder nicht innerhalb der gewünschten
Zeit tun. Erst auf Grundlage eines solchen Wissens lassen sich nämlich
begründete (!) Aussagen darüber treffen, ob und warum bestehende
didaktisch-methodische Konzepte zum mathematischen Erstunterricht bzw.
bestehende Förderkonzepte die angestrebte Ablösung vom zählenden
Rechnen begünstigen oder diese vielleicht sogar behindern."
Gaidoschik erklärt zunächst, was er unter "verfestigtem
zählendem Rechnen" (als abweichende Entwicklung mathematischen
Lernens) versteht und welches Forschunginteresse sich aus der Erkenntnis
ergibt, dass viele Kinder es in den ersten Schuljahren und auch darüber
hinaus praktizieren. Er sichtet eine große Anzahl von Studien zur
Entwicklung kindlicher Lösungsstrategien, ordnet und sichtet die
darin benutzten Begrifflichkeiten und unterzieht Aufbau und Ergebnisse
der Studien jeweils einer kritischen Analyse. Zugleich stellt er Bezüge
im Forschungsinteresse, der immer differenzierteren Betrachtung und der
Fortschritte in den jeweiligen Studien fest, so dass sich ein historischer
Zusammenhang ergibt, der es ermöglicht solche Forschungsergebnisse
vom heutigen Standpunkt aus zu beurteilen. Gaidoschik will verschiedene
ideologische Irrwege bisheriger Forschung nicht einfach als untauglich
denunzieren oder abqualifizieren, sondern im Lichte ihres jeweiligen besonderen
Ansatzes auf Fehler und Widersprüche aufmerksam machen, sowie den
vorhandenen Aussagewert im Hinblick auf seine eigenen Forschungsfragen
hin überprüfen.
Gaidoschik
will nun aber nicht wie andere AutorInnen (Fritz, Ricken, Krajewski) ein
"allgemeines Modell der mathematischen Lernentwicklung" bei
Grundschulkindern vorstellen, aus dem fachdidaktische Schlußfolgerungen
dann direkt gezogen werden könnten (S.96). Das hält er offensichtlich
für nicht möglich bzw. unzweckmäßig. Sein Vorgehen
besteht darin, über eine Gesamtschau bisher in der Forschung zusammengetragener
Entwicklungsaspekte, folgende Frage zu beantworten (S.96):
"Über welche Voraussetzungen muss ein Kind verfügen,
um die einzelnen, in qualitativen Interviews erfassbaren Rechenstrategien
jeweils verstehen und/oder anwenden zu können? Erst nach Beantwortung
dieser Frage lässt sich in weiterer Folge (vgl.Kap.3) sinnvoll überlegen,
wie Kinder bei der Aneignung erwünschter (!) Strategien gefördert
werden können - und zuvor schon, welche Strategien wir im Unterricht
berechtigterweise in welchem Alter anstreben sollten."
Gaidoschik nennt diese zu erfassenden Aspekte der kindlichen Entwicklung "Konzeptuelle
Voraussetzungen". Demgemäß ist ohne die jeweils individuelle
Offenlegung solcher konzeptueller Voraussetzungen, eine fachdidaktische
Beurteilung geeigneter Fördermaßnahmen nicht möglich.
Umgekehrt kann Unterricht immer nur dann optimal gestalteten Inhalt anbieten,
wenn für die Unterrichtenden klar ist, auf welche Voraussetzungen
bei den Schülern der Unterricht treffen wird.
Zum leidigen Thema, ob das Automatisieren wichtig oder unwichtig sei,
liefert Gaidoschik die passenden Argumente: Er erklärt wie das Automatisieren
im Zusammenhang des kontinuierlichen mathematischen Lernens seinen Stellenwert
hat. Bereits in der Frage, ob Automatisieren ein lohnendes Unterrichtsziel
sei, klingt der ideologische Charakter solcher Fragen an. Es kommt
eben darauf an, für welchen Zweck gelernt wird. Ob insgesamt die
Entwicklung des mathematischen Lernens durch Automatisierung von Rechenaufgaben
unterstützt werden sollte, ist eben doch keine mathematische Frage,
sondern eine Frage der allgemeinen Ziele des Unterrichts in der Schule.
Gaidoschik lässt sich jedenfalls nicht in den pädagogischen
Streit über Wert oder Unwert hineinziehen, sondern bezieht seine
Antworten rein auf die Unterstützung eines kontinuierlichen Lernprozesses
mathematischer Bedeutungen, jenseits schulischer Auslese und pädagogischer
Ideale.
Gaidoschik zieht klare Schlußfolgerungen aus seiner Auseinandersetzung mit
verschiedenen Empfehlungen für den arithmetischen Anfangsunterricht
bzgl. Ausrechnen von Rechenaufgaben versus Reflektieren von Zusammenhängen
(S.219):
"Wenn Kinder von einer (ausschließlich oder vorwiegend)
zählenden Zahlverwendung weggeführt und zum Erkennen, Verstehen
und Nutzen von operativen Zusammenhängen hingeführt werden sollen,
dann ist es unumgänglich, ihr Denken über Zahlen und ihre Strategien
selbst zum wesentlichen Inhalt des frühen Arthmetikunterrichts zu
machen. Es geht dann nicht einfach darum, dass Kinder Additionen und Subtraktionen
lösen und dass sie Summen und Differenzen korrekt ermitteln, Sondern
es geht wesentlich darum, wie sie das tun, welche Strategien sie dabei
anwenden, welche Überlegungen hinter diesen Strategien stecken, welche
Schlüsse und Erkenntnisse sie aus den Ergebnissen ziehen, usw."
Sagt der Therapeut: Wer hätte das gedacht ! Es bleibt die Erleichterung,
dass aktueller Stand der Forschung nun genau dies zu sein scheint - auch
und nicht zuletzt dank Gaidoschik!
Die in der umfassenden empirischen Studie, die den Hauptteil der rezensierten
Arbeit darstellt, vorgelegten Forschungsergebnisse lassen sich in folgenden
Punkten zusammenfassen (S.463-467):
These 1:
"Ableiten auf Grundlage operativer Einsichten fördert frühes
Automatisieren"
Das Automatisieren wird durch Ableiten auf Grundlage operativer Einsichten
gefördert. Es ist keine hinreichende Bedingung dafür aber eine
sehr gute Bedingung.
These 2:
"Vernachlässigung der Kommunikation über Rechenwege
erschwert die Verallgemeinerung operativer Einsichten"
In der Versuchsanordnung der Studie hat sich diese These erhärtet.
Umgekehrt ist davon auszugehen, dass günstige Kommunikationsbedingungen
im Unterricht genau die positive Wirkung entfalten würden, die Gaidoschik
erwartet.
These 3:
"Automatisieren ohne Ableiten ist selten"
Automatisieren - speziell beim einpluseins, nicht beim einmaleins - ohne
Ableiten unterstellt reines Auswendiglernen. Das ist möglich aber
selten, weil es hierfür keine Bedingungen gibt, die dem Kind direkt
das Auswendiglernen des Einspluseins nahelegen würden. Anders ist
es beim Einmaleins.
These 4:
"Weiterzählendes Rechnen tendiert dazu, sich zu verfestigen
- auch bei Kindern, die daneben ("wenn es sich lohnt") auch
ableiten"
Es gilt für einen Großteil der Kinder hier die Regel: Was sich
bewährt hat, wird angewendet ! Vor allem weist Gaidoschik darauf hin, dass
offensichtlich im Unterricht auch keine Anregung für alternative
Strategien nahegelegt wurde.
´These 5:
"Kinder, die ohne Ableiten zählend rechnen, verändern
ihren Strategiemix im zweiten Schulhalbjahr kaum noch"
Auch hier greift die Regel: Was sich bewährt hat, wird angewendet.
Allerdings wurde offensichtlich mit Kindern, die nur mit zählendem
Rechnen arbeiten, zu Hause mehr geübt als mit anderen Kindern, was
die Anwendung der Methode des zählenden Rechnens noch mehr verfestigte.
Außerdem wurde in der Schule keine besondere Unterstützung
geleistet, obwohl bei den meisten dieser Kinder zum Schuleintritt bereits
erkennbare Defizite festgestellt wurden.
Gaidoschik leitet aus diesen Ergebnissen nun weitere Forschungshyothesen ab, die
in weiteren Untersuchungen bearbeitet werden könnten. Er stellt hierzu
fest:
" ... als Tendenz unter den Bedingungen eines bestimmten Unterrichts,
nicht aber als Notwendigkeit kindlicher Entwicklung per se, lassen sich
für nachfolgende Untersuchungen eine Reihe von Hypothesen formulieren,
... "
Er will im Weiteren darauf hinweisen, dass weitere Forschungen auf dem
Gebiet der mathematischer Fachdidaktik des Anfangsunterrichts, nicht etwa
losgelöst von schulpolitischen Zwecksetzungen guten Unterricht hervorbringen
könnten. Alle Empfehlungen und Kritik, die aus seiner Forschungsarbeit
hervorgehen, verbleiben somit auf der Ebene idealer Zwecksetzungen pädagogischer
Theorie. Auf diesem Hintergrund betrachtet, hat Gaidoschick mit seiner
Arbeit einen guten Beitrag in der fachdidaktischen Diskussion geleistet
- nicht mehr und nicht weniger.
Friedrich
H. Steeg, Volxheim, den 25.01.2012
Email: webmaster@rechenschwaecheinstitut-volxheim.de
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