+++
aktuell +++
Den Antwortbrief des MBFJ auf unseren "Offenen Brief" vom 17.Mai 2005
finden Sie ganz unten!
Eine weitere Entgegnung
unsererseits ist noch nicht erfolgt.
Aus gut
unterrichteten Kreisen des MBFJ erfuhren wir, die in der Antwort des MBFJ angekündigte
Verwaltungsvorschrift für die weiterführenden Schulen solle frühestens
nach den Landtagswahlen 2006 in Kraft treten und auch nur für LRS gelten,
nicht für Rechenschwäche. Alle bisherigen Bestimmungen für die
Grundschule - und somit auch für die Orientierungsstufe - bleiben in Kraft
(vor allem der Fördererlaß bei Lernschwierigkeiten von 1993)!
Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend
Ministerin Doris Ahnen
Wallstraße 3
55122 Mainz
17. März 2005
Offener Brief
an die Ministerin für Bildung, Frauen
und Jugend in Rheinland-Pfalz, Frau Doris Ahnen, zu den Mißständen
an rheinland-pfälzischen Schulen, unter denen Schüler mit besonderen
Schwierigkeiten im Fach Mathematik zu leiden haben:
- mangelnde Bereitschaft für flankierende schulische Maßnahmen bei
besonderen Schwierigkeiten im Fach Mathematik
- ungenügende oder fehlende inhaltliche, individuelle Lernstandsdiagnostik
- dementsprechend meist zu unspezifische und dadurch oft schädliche Förderung
im Fach Mathematik.
Sehr geehrte Frau Ahnen,
bei unserer Arbeit mit rechenschwachen Kindern benötigen wir eine gute Zusammenarbeit mit den jeweiligen Schulen. Mit vielen Schulen, insbesondere Grundschulen, funktioniert dies auch. Leider aber erleben wir es regelmäßig, daß Schulen - auch einzelne Grundschulen - sich teilweise oder auch ganz gegen eine Zusammenarbeit mit uns sperren, indem sie Gesetze einseitig im Sinne einer "Selektionsgerechtigkeit" interpretieren und/oder sich auf kontraproduktive pädagogische Argumentationen berufen.
Wir TherapeutInnen vom Rechenschwächeinstitut-Volxheim vertreten folgenden Standpunkt:
Notwendige flankierende Maßnahmen zur Unterstützung einer Rechenschwächetherapie oder einer mathematischen Förderung sind in den meisten Fällen:
Aussetzen der Zeugnisnote, Befreiung von Klassenarbeiten, Entbindung von der Pflicht zur mündlichen Mitarbeit und der Pflicht zur Erledigung der regulären Hausaufgaben oder auch alternativ in bestimmten Fällen:
Anpassung der Anforderungen im Mathematikunterricht an den individuellen Lernstand gemäß einer vorhergegangenen sorgfältigen individuellen Lernstandsanalyse.
In allen Schulstufen und Schularten sind solche Maßnahmen bei den betroffenen Kindern notwendig - nicht nur in den Grund- und Förderschulen!
Von vielen SchulleiterInnen - vor allem an weiterführenden Schulen - werden jedoch, trotz der vom Ministerium immer wieder betonten Priorität individueller Förderung an allen Schulstufen (siehe auch: §10 und §19 des neuen Schulgesetzes von Rheinland-Pfalz), weiterhin folgende Behauptungen gegen wichtige flankierende Maßnahmen bei mathematischer Förderung aufgestellt und hartnäckig vertreten:
Notwendige Maßnahmen zur flankierenden Begleitung von Rechenschwächetherapien oder anderer mathematischer Förderungen werden mittels solcher Argumente regelmäßig abgelehnt bzw. gar nicht erst in Erwägung gezogen. Schädigungen betroffener Kinder werden billigend in Kauf genommen. Die Routine eines selektionseffektiven Unterrichts hat an solchen Schulen Priorität und aufkommende "Erwartungshaltungen" von Eltern werden in die Schranken gewiesen.
Richtigzustellen ist dabei Folgendes:
Ein Kind, das - nachgewiesen durch eine sorgfältige Lernstandsanalyse - über keine gesicherten Grundlagen im Verständnis der Mathematik verfügt und sich deswegen jahrelang mit auswendig gelernten Fragmenten und Phantasie-Regeln durchgeschlagen hat, versäumt nichts, wenn es vom "Mitlernen" auf dem klassenbezogenen, unverstandenen Niveau eine Zeit lang freigestellt wird. Im Gegenteil: Der Zweck einer Notenaussetzung, vorläufige Freistellung von Klassenarbeiten, Hausaufgabenerlaß oder -erleichterungen ist gerade, daß nicht weiter ohne Sinn und Verstand gebüffelt wird und dadurch völlig falsche Vorstellungen über den Lerngegenstand Mathematik schädlicherweise verfestigt werden (Rechenschwäche, subjektive Algorithmen). Außerdem ist inzwischen nicht nur bei Psychologen bekannt und gilt als erwiesen, daß durch massive Überforderungen im Fach Mathematik, schwere Persönlichkeitsstörungen und chronische Versagermentalität hervorgerufen und verfestigt werden (siehe auch: §35a/KJHG und die Arbeitshilfen dazu). Alleine schon durch flankierende Maßnahmen, wie weiter oben beschrieben, wird solchen Entwicklungen oft bereits die Spitze genommen und eine neue Lernperspektive eröffnet. Mittel für die Dokumentierung einer gescheiterten mathematischen Lernentwicklung ist idealiter eine individuelle mathematische Lernstandsanalyse (Methode: diagnostisches Interview) - nicht das Mitschreiben von Klassenarbeiten. Auch die in Rheinland-Pfalz durchgeführten VERA-Vergleichsarbeiten bringen keine sicheren Detailkenntnisse über mathematische Kenntnisse einzelner Kinder hervor (siehe auch: ZTR-Analyse zu Vergleichsarbeiten, 2004 - im Anhang bei den Internet-Texten).
Warum sind nicht sorgfältige individuelle Lernstandsanalysen im Fach Mathematik eine eigene Pflichtleistung der Schulen? Nur so erhält die LehrerIn einen echten Einblick ins mathematische Denken der Kinder, der es erlaubt zu beurteilen, ob Schüler ein tragfähiges Wissen erworben haben. Dann würde sich bereits in der Schule (vor-) abklären lassen, inwiefern eine Sonderstellung der SchülerIn und individuelle Fördermaßnahmen sachlich begründet sind.
Sorgfältige individuelle Lernstandsanalysen,
die individuelle mathematische Förderungen und begleitende flankierende
Maßnahmen begründen, müssen ernstgenommen werden. Wir erstellen
oft solche Gutachten, bevor die Schule Fördermaßnahmen in Betracht
gezogen hat. Wenn man dann allerdings den diesbezüglichen Ergebnissen,
sofern sie inhaltlich im Grundsatz unbestritten sind, keine entsprechenden Maßnahmen
folgen läßt, heißt das: Schädigungen der betroffenen SchülerInnen
werden bewußt in Kauf genommen. Ergebnisorientierte Übungen und Fleißarbeiten
ohne Bezug auf solches diagnostisches Wissen über den Lernstand werden
an Schulen viel zu oft als "Förderempfehlung" erster Wahl betrachtet. Dies
ist pädagogisch wie mathematisch mindestens eine grobe Fahrlässigkeit.
Angesichts des Arguments, wegen der Gerechtigkeit gegenüber den anderen
Schülern könne und wolle man keine Rücksicht auf Schüler
mit massiven Mathematikproblemen nehmen, muß man sich über die Abneigung
vieler LehrerInnen gegen förderdiagnostisches Vorgehen bei Mathematikproblemen
nicht wundern. Dieses Argument ist eine sehr häufig von LehrerInnen verwendete
Rechtfertigung für die Priorität der Schülerselektion an den
Schulen.
Verunsicherte Eltern werden, wie wir leider immer wieder erfahren müssen, mit verschiedenen Varianten der oben (s.o.: 1-4) aufgezählten Behauptungen regelrecht eingeschüchtert. In vertraulichen Besprechungen überredet man Eltern betroffener Kinder, von Forderungen nach flankierenden Maßnahmen Abstand zu nehmen. Es wird an "Vernunft, Realitätssinn und Harmoniebedürfnis" appelliert. Um die Schule nicht zu verärgern und möglichen Benachteiligungen des Kindes in der Schule zu entgehen, stimmen Eltern nicht selten zu, von Forderungen nach Rücksichtnahmen wieder Abstand zu nehmen.
In vielen Ihrer Reden und Diskussionsbeiträge beschwören Sie, Frau Ahnen, die Priorität der individuellen Förderung an allen Schularten (siehe auch: neues Schulgesetz) - gerade während des letzten Halbjahres, in dem Sie den Vorsitz der KMK inne hatten. Wir gehen davon aus, daß dies kein Alibistandpunkt und keine Wahlpropaganda gewesen ist, sondern daß Sie echte Veränderungen herbeiführen wollen.
Wir bitten Sie um Stellungnahme zu den oben beschriebenen Fakten und um Abhilfe gegenüber den Mißständen an vielen Schulen.
Es darf nicht sein, daß Alltagsroutine und Auslesepriorität den Ansatz individueller Mathematik-Förderung kaputt machen, wodurch in der Folge auch die allgemeine geistige, psychische und soziale Entwicklung vieler Schulkinder geschädigt wird.
Mit freundlichem Gruß